Freitag, 2. März 2018

"Was ist ein Naturgesetz?"

aus FAZ.NET,

Was ist ein Naturgesetz?

 

...Was sind Naturgesetze und woher kommen sie? Diese Frage wirkt auf den ersten Blick sehr viel einfa- cher, als sie tatsächlich ist. Das Grundphänomen ist uns allen vertraut: Die Welt um uns herum scheint bestimmten Regeln zu gehorchen. Wenn wir ein Glas fallen lassen, dann können wir uns darauf verlassen, dass es sich beschleunigt in Richtung Erdboden bewegt, und nicht etwa ab und zu einfach davon fliegt.

Diese Regelhaftigkeit, die Existenz von Gesetzen, die das Verhalten mindestens der physikalischen Welt bestimmen, ist seit dem späten 17. Jahrhundert ein zentrales Element der Naturwissenschaften. Es war René Descartes, der das bis dahin geltende Verständnis der “lex naturae” vom vorher gängigen Kontext moralischer Gesetze auf allgemeine Prinzipien der unbelebten Natur ausweitete. In diesem neuen Verständ- nis der Naturgesetze war Gott ausschlaggebender Gesetzgeber, der das Verhalten der als passiv angenomm- enen Materie lenkte und ordnete. Mit Newtons Veröffentlichung der “Principiae Naturalis Principia Mathe- matica” traten 1687 mit den drei “Newton’schen Gesetzen” diejenigen Naturgesetze in die Welt der Physik, die uns als Beispiel für typische Naturgesetze heute vielleicht als erstes in den Sinn kommen. Nicht mehr Gott ist hier als direkter Impulsgeber formuliert, sondern es sind Kräfte, die als Ursachen mechanischer Bewegungen identifiziert werden können.

... Für die Philosophen fing mit Newton dagegen das Rätsel der Naturgesetze erst an. Denn es tut sich ein offensichtliches Problem auf: von notwendig auftretenden Zusammenhängen sehen wir nichts in der Welt. Alles, was wir beobachten, sind an sich unzusammenhängende Einzelereignisse. Bereits die Newtonschen Kräfte entziehen sich unserer direkten Wahrnehmung, umso mehr die behaupteten gesetzartigen Kausalbe- ziehungen. David Hume nahm dies zum Anlass, die Existenz von Naturgesetzen in der Welt grundsätzlich in Frage zu stellen. Nach Hume sind Naturgesetze nicht mehr als eine Zusammenfassung bisher beobachte- ter Regelmäßigkeiten, deren scheinbare Notwendigkeit nur unserer gewohnheitsgemäßen Zuschreibung entspringt.


Das klingt soweit erstmal einleuchtend: Was man nicht beobachten kann, sollte man in empiristischer Manier nicht unkritisch voraussetzen. Trotzdem läuft diese Analyse unserer Intuition extrem entgegen. Es scheint doch notwendigerweise immer so zu sein, dass ein Auto eine Delle bekommt, wenn ich gegen ein Straßenschild fahre oder dass eine Fläche immer wärmer wird, wenn sie von der Sonne beschienen wird. Diese Zusammenhänge haben mit Gewohnheiten unsererseits doch offenbar wenig zu tun. Kant versuchte dieser Intuition in seiner Kritik der reinen Vernunft 1781 gerecht zu werden, indem er beschreibt, wie die Kausalität als einheitsstiftendes Prinzip unseres Denkens allen Phänomenen quasi übergestülpt wird. Wir “brauchen” Kausalität, damit die Phänomene erkennbar für uns sind. Kausalität ist als Denkform Bedin- gung der Möglichkeit von Erfahrung. Dadurch, dass sie den (transzendentalen) Status einer Bedingung hat, ist sie gleichzeitig aber objektiv, das heißt allgemeingültig und notwendig – anders als bei Hume.

Kants Position ist natürlich überaus voraussetzungsreich und damit vielleicht nicht unbedingt diejenige Art von Philosophie, die sich wissenschaftlich Interessierte für das Verständnis von Naturgesetzen wünschen, zumal unser heutiges Verständnis von Naturgesetzen sich ja keineswegs auf den Begriff der Kausalität beschränkt. Insofern scheint es lohnend, überhaupt erst einmal zu klären, was wir heute als Naturgesetz bezeichnen.

Zunächst sind Naturgesetze mit dem Anspruch von Wahrheit verbunden. ... Gleichzeitig sind aber nicht alle allgemein gültigen, wahren Sätze Naturgesetze: Weder “Alle Junggesellen sind unverheiratet” noch “Alle ebenen Dreiecke haben eine Winkelsumme von 180 Grad” sind Naturgesetze, weil beide Sätze Sachver- halte beschreiben, die gar nicht anders sein können – aus grammatischen und aus geometrischen Gründen.* Naturgesetze beschreiben dagegen Vorgänge, die man sich prinzipiell auch anders vorstellen könnte. Man könnte sich beispielsweise eine Welt denken, in der alle Gegenstände nach oben fliegen, wenn ich sie auf der Erde fallen lasse. 

Naturgesetze sind ja grade deshalb so interessant, weil sie uns Auskunft über Zusammenhänge geben, die nicht selbstverständlich sind. Schließlich lassen sich auf der Grundlage von Naturgesetzen Voraussagen machen der Art: “Wenn ich dieses Glas fallen ließe, würde es zerbrechen.” Naturgesetze machen Aussagen über Situationen, die ich in sogenannten kontrafaktischen (der “wenn”-Satz entspricht nicht der Realität) Konditionalen ausdrücken kann. Diese Eigenschaft macht Naturgesetze in ihrer Anwendung so nützlich.

Und trotzdem gibt es noch verwirrende Fälle, die einer allgemeinen Definition im Wege zu stehen schei- nen. Zum Beispiel Newtons erstes Gesetz “ein kräftefreier Körper bleibt in Ruhe oder bewegt sich grad- linig”: Da es in dieser Welt keine kräftefreien Körper gibt, gibt es streng genommen nichts, worauf sich das Gesetz bezieht. Was unterscheidet dieses Gesetz von anderen Gesetzen, die sich ebenfalls auf nichts bezie- hen (“Alle Einhörner essen Freitags Schokolade”)? Ein anderes in der Philosophie prominentes Beispiel zeigt, dass allein die sprachlich-grammatische Form eines Satzes rein gar nichts darüber aussagt, ob er ein Naturgesetz formuliert oder nicht. Man vergleiche: “Alle Goldkugeln haben einen Durchmesser von weni- ger als zwei Kilometern” und “Alle Kugeln aus angereichertem Uran haben einen Durchmesser von weni- ger als zwei Kilometern”. Trotz der eindrucksvollen Ähnlichkeit beider Sätze und der Tatsache, dass nach aktuellem Wissensstand beide wahr sind, hat nur der zweite Gesetzesstatus, denn während der Herstellung einer größeren Goldkugel im Prinzip nichts im Wege stünde, würde eine derart große Urankugel angesichts nuklearer Prozesse instabil sein.

Was ist es also, das beide Sätze unterscheidet? Ein offensichtlicher Unterschied ist, dass einer eine direkte Einbettung in eine Theorie besitzt, in diesem Fall die Quantentheorie (es gibt einen theoretischen Grund für diese Aussage), der andere nicht. Ist es also das, was Naturgesetze ausmacht? Ihre Einbettung in Theorien? Hier fängt man sich gleich wieder ein neues Problem ein, denn wie wir aus der Wissenschaftsgeschichte wissen, ändern sich Theorien mit der Zeit – Naturgesetze aber nicht. 

Philosophen haben versucht, dieses Problem dadurch zu lösen, dass sie diejenigen Theorien, die Naturge- setze beinhalten, besonders auszeichnen: Es sind diejenigen, die einen optimalen Kompromiss zwischen Einfachheit und weitreichendem Erfolg in der Erklärung von Phänomenen besitzen. So sind Newtons Gesetze, als Grenzfall der Relativitätstheorie, überaus einfach und erklären trotzdem die gesamte Mechanik unserer Alltagserfahrung. Aber mit dieser Lösung hat man das Problem nur verlagert, denn wie stellt man das Vorliegen dieses optimalen Kompromisses fest? Was heißt “einfach”? Was heißt “erfolgreich”?

Eine ganz andere Strategie für die Annäherung an das Wesen der Naturgesetze könnte sein, sie einfach als in der Welt existierende Notwendigkeiten zu sehen. Dadurch spart man sich alle drohenden Bezugnahmen auf und Relativierungen durch unsere menschliche Wissenschaftspraxis. 

Aber trotzdem bleibt die Frage: Woher kommen die Gesetze? Und warum sind sie so, wie sie sind? Diese Frage wird umso dringlicher, als die Vielfalt der Naturgesetze seit Newton offenbar enorm zugenommen hat: Während klassisch alle Naturgesetze als kausal angesehen wurden (bei ausreichend bekanntem An- fangszustand kann die Zukunft des Systems genau vorhergesagt werden), hat die Thermodynamik statisti- sche Gesetze eingeführt (Druck und Temperatur eines Gases sind beispielsweise Größen, für deren Defini- tion man die Eigenschaften aller Gasteilchen nicht kennen muss), es gibt phänomenologische Gesetze (bei- spielsweise das Hook’sche Gesetz, das die rücktreibende Kraft einer Feder als der Dehnung proportional beschreibt) und mit der Quantentheorie auch probabilistische Gesetze. 

Insbesondere die Quantentheorie hat den Charakter von Naturgesetzen sehr grundlegend geändert: Schließ- lich ist es hier nicht mehr möglich, auf der Grundlage bekannter Anfangsbedingungen die Entwicklung aller Eigenschaften beispielsweise eines Elektrons präzise vorherzusagen. Was die Quantentheorie liefert, sind Wahrscheinlichkeiten dafür, das Teilchen bei einer Messung in einem bestimmten Zustand zu finden. Welcher Zustand tatsächlich gemessen wird, ist über diese Wahrscheinlichkeiten hinaus unbestimmt. Die Deutung dessen, was im Zuge einer quantenmechanischen Messung geschieht, ist nach wie vor umstritten. Und so führt die Frage nach dem Wesen der Naturgesetze auch auf der skalenmäßig untersten Ebene unserer Naturbeschreibung in die Philosophie hinein. ...
 
*) (Grammatische und geometrische Gründe gelten indes nicht 'an sich', sondern gehören zu den selbstgemachten Verfahrenswiesen der Vernunft. JE


Nota. - Man kann das eigentliche Problem immer weiter vor sich herschieben, aber dabei wird nur immer durchsichtiger: Was wir - seit Newton und auch nach Kant - als unsere Vernunft auffassen, sträubt sich gegen den Gedanken, dass etwas ist und ist und lediglich ist: Es ist ein Ungedanke. Sofern wir denken, müssen wir uns einen vorangegangenen andern Zustand denken -  und einen Täter; einen, der eingegriffen und aus dem vorangegangen den gegenwärtigen Zustand gemacht hat. Der abstrakt denkende Naturwissen- schaftler wird gewohnheitsmäßig nicht mehr an einen Verursacher, sondern an eine Ursache denken; aber sie nicht denken kann auch er nicht. 

Es ist ein Zirkel. Die Vernunft erlaubt uns nicht, ohne Kausalität zu denken. Aber Vernunft ist ursprünglich nicht anderes als das Prinzip, sich alles Seiende als verursacht vorzustellen. Denn selbstverständlich kann man sich die Welt auch anders vorstellen - nur reden wir dann nicht von denken, sondern von phantasieren; nicht von Vernunft, sondern von Irrsinn.

Die Kritik des Naturgesetzbegriffs ist nichts anderes als Vernunftkritik - so die Tendenz seit Kant. Das Vexierstück ist, dass die Vernunft sich selbst voraussetzt. Will sagen, was Vernunft ist und ob und wie sie sich begründen lässt, kann wieder nur mit den Instrumentarien der Vernunft entschieden werden. Die Ver- nunft kann sich nicht von außen prüfen, sondern muss gewissermaßen in sich zurückkriechen und sich da- bei zusehen, wie sie es anstellt, am Ende 'zu sich selbst' zu kommen.

Sie kann sich dabei ihrer stolzesten Leistungen - Begriff und Schlussregeln - nicht bedienen, sie muss im Gegenteil darauf achten, bei der Rekonstruktion ihres Werdegangs dieses Ziel nie aus dem Auge zu lassen: Begriff und Schlussregeln festzustellen! Sie kann nicht argumentieren, sondern muss zeigen, muss an- schaulich vorführen, "wie man es sich vorstellen muss". 

Vernunftkritik ist diejenige Philosophie, in die - da hat Frau Anderl ganz Recht - die Frage nach den Natur- gesetzen letzten Endes hineinführt. Kant hatte die Transzendentalphilosophie bis an die Pforten seines Apriori, der zwölf Kategorien und der beiden Anschauungsformen getrieben. Da blieb er stehen. Fichte führte die Untersuchung fort. Als allererste Voraussetzung auch des Kant'schen Apriori legt er das schlecht- hin agile Ich bloß, das 'sich setzt, indem es sich ein/em Nicht-Ich entgegensetzt'. Schon Raum und Zeit, schon die Kategorien sind Weisen des Vorstellens, ja 'das Ding' selbst wird real erst, wenn es ihm entgegen- steht und als ein Dieses bestimmt und vorgestellt wird. (Wir wissen nichts als was in unserm Bewusstsein vorkommt. In unserm Bewusstsein kommen nur Vorstelleungen vor.)

Kurz gesagt, in allem, was wir uns vorstellen, ist ein Macher immer schon mitgedacht, nämlich Ich. Aber die Kritische alias Transzendentalphilosophie erlaubt uns, davon zu abstrahieren. Doch wenn wir vom Ver- ursacher abstrahieren, sollten wir auch von der Ursache abstrahieren. In ontologischer Hinsicht kommt die Vernunft nie weiter als bis zu: Was ist, ist.* So verfahren die statistischen Fächer wie die Thermodynamik; die haben auch mit der Emergenz kein theoretisches Problem.

*) Will sagen: Die Erscheinung erscheint, und sonst nichts. Alle Attribute sind Zutaten der Intelligenz.
JE

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