Samstag, 29. Dezember 2018

Die Plastizität unserer Gehirne.

FAZ
 aus derStandard.at, 25. Dezember 2018

Was im Gehirn passiert, wenn man erblindet
Forscher zeichneten nach dem Verlust der Sehkraft am Mäusemodell den Umbau der Großhirnrinde sowie der Gedächtnisleistung nach

Kommt es akut zu einer Erblindung, dann muss das Gehirn mit der Veränderung der Sinneswahrnehmun- gen erst einmal zurecht kommen. Was sich nach einem solchen einschneidenden Ereignis in der Großhirn- rinde im Detail abspielt und welche Auswirkungen das auf die Gedächtnisleistung hat, haben deutsche Wissenschafter nun bei genetisch manipulierten Mäusen festgestellt.

Infolge des Erblindens werden andere Sinne empfindlicher: Der Tastsinn, das Gehör und der Riechsinn werden präziser. Damit können blinde Menschen sich genau orientieren und durch eine Umgebung navi- gieren, trotz fehlender visueller Informationen. Diese Adaptation braucht allerdings Zeit und Übung. Die Veränderungen werden durch die sogenannte synaptische Plastizität ermöglicht.

Der Begriff beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, sich über das Kindesalter hinaus anzupassen und Erin- nerungen zu bilden. Ob eine adaptative Reorganisation des Gehirns stattfindet, können Forscher anhand der Dichte von Neurotransmittern ermitteln, die für die synaptische Plastizität wichtig sind.

Veränderungen bei der Dichte der Neurotransmitter

Wissenschafter von der Ruhr-Universität Bochum untersuchten an Mäusen, was nach dem Erblinden im Gehirn passiert. Sie erfassten, in welchen Hirnbereichen sich die Dichte der für die Plastizität relevanten Neurotransmitter änderte, und verglichen die Ergebnisse mit den Gehirnen von gesunden Mäusen. Außer- dem testeten sie, wie gut die erblindeten Mäuse mithilfe ihrer anderen Sinne in Orientierungstests abschnit- ten, um Rückschlüsse auf die Gedächtnisleistung der Tiere ziehen zu können.

Die im Fachjournal "Cerebral Cortex" präsentierten Ergebnisse zeigen, dass sich nach dem Erblinden die Dichte von Neurotransmitterrezeptoren im Hippocampus verändern, der wichtigsten Gedächtnisstruktur des Gehirns. In den folgenden Monaten wandelte sich die Dichte der Neurotransmitter auch im visuellen Cor- tex, in dem die Informationen des Sehsinns eingehen, und zusätzlich in den Arealen der Großhirnrinde, die die Informationen der anderen Sinne verarbeiten.

Kraftakt für das Gehirn

Die Orientierungsaufgabe forderte den Hippocampus der Mäuse. Die erblindeten Tiere schnitten erwar- tungsgemäß schlechter ab als die gesunden. Außerdem war die synaptische Plastizität im Hippocampus in dieser Zeit beeinträchtigt. "Unmittelbar nach dem Erblinden versucht das Gehirn, die fehlenden Signale zu detektieren, indem es seine Empfindlichkeit für visuelle Signale steigert", erklärt Denise Manahan-Vaughan, die die Studie geleitet hat.

Wenn das nicht gelingt, beginnt der Prozess der gesamten Reorganisation der sensorischen Areale, die durch Veränderungen der Dichte und Funktion von Neurotransmitterrezeptoren im Gehirn unterstützt wer- den. "Das ist anstrengend für das Gehirn, und während dieser Phase wird die Fähigkeit des Hippocampus, räumliche Erfahrungen zu speichern, offenbar erschwert", erklärt Manahan-Vaughan. (red.)


Abstract
Cerebral Cortex: "Early Loss of Vision Results in Extensive Reorganization of Plasticity-Related Receptors and Alterations in Hippocampal Function That Extend Through Adulthood."



Nota. - Man sollte sich wohl in Ansehungs des menschlichen Gehirns die Vorstellung von Strukturen aus dem Kopf schlagen. In einem organischen System gibt es Funktionen, die erfüllt sein müssen, damit das System überlebt. Der Organismus wird immer sein Bestes tun. Ob es reicht, muss sich finden.
JE

Freitag, 28. Dezember 2018

Spekulativer Realismus.


aus derStandard.at, 28. Dezember 2018, 09:00

Philosophie zwischen Fiktion und Fakten
Der Philosoph Graham Harman hat eine launige Einführung über die neue Denkrichtung "Spekulativer Realismus" publiziert

Die zeitgenössische Philosophie ist von einer Kluft zwischen zwei Denkströmungen bestimmt, deren Vertreter nicht nur um tiefreichende, philosophische Fragen ringen, sondern völlig profan auch um Lehrstühle, Forschungsgelder und Prestige. Auf der einen Seite steht da die analytische Philosophie, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts, grob gesprochen mit einem Schwerpunkt auf Logik und Sprachanalyse zunächst vor allem im anglo-amerikanischen Raum an Einfluss gewonnen hat.

Auf der anderen Seite des Atlantiks beziehungsweise des Ärmelkanals haben sich hingegen Denktraditionen durchgesetzt, die sich beispielsweise verstärkt auf Erfahrung und Hermeneutik stützen, als die analytischen Philosophen und von diesen abschätzig als "continental philosophy" (der deutsche Begriff Kontinentalphilosophie ist weniger geläufig) bezeichnet worden sind.

Spekulation und wissenschaftliche Fakten

Klarerweise lassen sich diese beiden Lager nicht klar von einander abgrenzen und sind in sich nicht einheitlich zu charakterisieren. Unter den Kontinentalphilosophen hat allerdings im vergangenen Jahrzehnt eine Denkströmung besonders viel Aufmerksamkeit, vor allem weil sie auf Themen gesetzt hat, die üblicherweise vor allem analytische Philosophen bearbeitet haben, der sogenannte Spekulative Realismus.

Dieser Begriff beinhaltet auf den ersten Blick bereits einen Widerspruch in sich und darf durchaus auch als Provokation verstanden werden: Spekulation und Fakten haben ja nicht immer das beste Auskommen miteinander. Freilich schon viel über den Spekulativen Realismus gesagt, geschrieben und publiziert worden, die Neuerscheinung von Graham Harman "Speculative Realism – An Introduction" nimmt dabei aber eine Sonderstellung ein.

Folgenreicher Workshop

Es war ein Philosophie-Workshop am Goldsmiths College der University of London im April 2007, bei dem der Spekulative Realismus gewissermaßen aus der Taufe geworden ist. Die vier Vortragenden des Workshops Ray Brassier, Iain Hamilton Grant, Graham Harman und Quentin Meillassoux gelten folglich als die ursprünglichen Vertreter des Spekulativen Realismus – und das obwohl sich Brassier, der den Begriff einst geschaffen hat, mittlerweile außerhalb der Bewegung positioniert. Harman ist nun der erste des einstigen Quartetts, der der neuen Denkströmung einführendes Buch gewidmet hat.

Darin stellt Harman nicht nur seine eigene Version des Spekulativen Realismus vor, sondern geht im selben Umfang auch jeweils auf die Theorien von Brassier, Grant und Meillassoux ein, wobei er nicht unbedingt zimperlich mit den Gedanken seiner Kollegen umgeht. Das ist freilich etwas unfair, wie Harman auch selbst im Vorwort zugibt, aber für seine Leserinnen und Leser durchaus unterhaltend: Wenn er sich etwa bei Brassier fragt, warum dieser angesichts seiner uneingeschränkten Verehrung für die Kognitionsforschung überhaupt noch als Philosoph betätigt und nicht schon längst Wissenschafter geworden ist.

Harman ist ein mitreißender Autor, nahezu im Plauderton führt er seine Leserschaft in das komplexe Verhältnis der Denker des Spekulativen Realismus mit wissenschaftlichen Fakten und den Naturwissenschaften ein – Bereiche, mit denen sich bislang eher analytische denn kontinentale Philosophen beschäftigt haben. (trat, 28.12.2018)

Graham Harman: "Speculative Realism – An Introduction", € 22 /190 Seiten, Polity, Cambridge 2018



Spekulativer Realismus 

Der Spekulative Realismus ist eine philosophische Strömung, die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts gegen den „KorrelationismusKant und seiner Nachfolger stellt – also gegen die These, dass es nichts Seiendes gibt, zu dem es nicht auch einen subjektiven Zugang gibt – und wieder an Traditionen der klassischen Ontologie und des metaphysischen Realismus anknüpft. Im Zentrum der Arbeiten seiner Protagonisten steht nicht mehr die Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern die Ontologie der Objekte. Die von Kant postulierte Unerkennbarkeit der Dinge ist für den spekulativen Realismus keine epistemologische Begrenzung, sondern eine (zugleich notwendige und kontingente) ontologische Eigenschaft der Dinge selbst. Kontingenz herrscht auch in den Beziehungen zwischen den Dingen; in diesem Zusammenhang stellen die Spekulativen Realisten den Vorrang des Subjekts infrage.

Geschichte

Zu den Begründern der mehrere Denkansätze umfassenden Strömung, die sich auf einer Konferenz des Goldsmiths College der University of London im April 2007 öffentlich präsentierte, gehören Ray Brassier (damals Middlesex University, heute Amerikanische Universität Beirut), der sich allerdings selbst außerhalb der Bewegung sieht, Iain Hamilton Grant (University of the West of England), Graham Harman (American University in Cairo) und Quentin Meillassoux von der École normale supérieure in Paris.

Während Meillassoux zunächst den Begriff Spekulativer Materialismus (matérialisme spéculatif) präferierte, um seine Position zu kennzeichnen, verwendete Ray Brassier wohl in provokativer Absicht zuerst den Begriff Spekulativer Realismus.

Ausgangspunkt

Ein Ausgangspunkt des Spekulativen Realismus ist die Diagnose, dass sich auch die moderne Philosophie gegenüber den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften weitgehend ignorant verhielt und diese nicht als Ressource betrachtete. Der Konstruktivismus und die Linguistische Wende der Philosophie seit den 1960er Jahren hätten keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn mehr gebracht und seien der Beliebigkeit und Selbstrefenzialität anheimgefallen. Daher fordern die Vertreter des Spekulativen Realismus eine Anerkennung einer autonomen Realität, die vom Menschen und seinem Bewusstsein unabhängig ist. Die Philosophie müsse aufhören, sich nur für die Sicht des Menschen auf die Welt zu interessieren.
Vertreter und Positionen

Die Vertreter des Spekulativen Realismus beziehen im Einzelnen sehr unterschiedliche Positionen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Notwendigkeit des Denkens jenseits des Menschen postulieren.

Radikale Kontingenzlehre

Quentin Meillassoux von der École normale supérieure in Paris geht in seiner radikalen Kontingenzlehre davon aus, das nichts auf der Welt einen Grund hat. Während die materielle Natur auf den ersten Blick von bestimmten Gesetzen beherrscht werde (die sich aber ändern könnten), sei das Sein kontingent. Die Welt sei kein Rationalitätskontinuum; sie müsse keinen logischen Grund haben, nur weil die kognitive Struktur des Menschen es so fordere. Meillassoux verwirft damit nicht nur den Satz vom zureichenden Grund, sondern die Notwendigkeit der Existenz aller logischen Gesetze mit Ausnahme des Satzes vom Widerspruch (etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein).

Ein Ausgangspunkt seines Philosophierens ist das Paradox der arche-fossils, die für die moderne instrumentelle Wissenschaft zeigen, dass es ein Universum, eine Erde und organisches Leben lange vor dem menschlichen Bewusstsein gegeben habe; davor verschließe die Philosophie in der Nachfolge Kants immer noch die Augen. Für Meillassoux ist ein Grundzug der Transzendentalphilosophie Kants ihr Korrelationismus, eine Art des zirkulären Denkens, das die Unmöglichkeit eines gedanklichen Zuganges zu einem vom Denken unabhängigen Sein behaupte. 

Eine Implikation des Korrelationismus sei die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die besagt, dass die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und der Sache, auf die er sich bezieht, Wahrheit garantiere. Dieser Ansatz führe zu einer anthropozentrischen Sicht der Dinge, zu einer Weltsicht, die durch die menschlichen Vorstellungen kontaminiert werde. Demgegenüber postuliert Meillassoux die Existenz einer Realität, die ohne jeden Bezug zum menschlichen Denken und grundlos existiere. Daher kritisiert er auch eine weitere Implikation des Korrelationismus, nämlich die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die besagt, dass die a priori Übereinstimmung von erkennendem Verstand und der Sache, auf die er sich bezieht, Wahrheit garantiere.

Ontologie der Objekte

Im Mittelpunkt der Versuche der Begründung einer neuen realistischen Metaphysik oder Ontologie der Objekte durch von Graham Harman und Markus Gabriel stehen die Objekte innerhalb und außerhalb des Geistes, also auch die Gedanken über Objekte. Die Welt sei nicht gleichzusetzen mit der Natur, sie umfasse materielle und nicht-materielle Objekte.

Gabriel kritisiert Kants Position der Unerkennbarkeit der Welt (das „Ding an sich“) mit dem Argument, dass „die Welt“ als Totalität in Wirklichkeit nicht existiere; es gebe nur unzählige „Sinnfelder“, in denen die Gegenstände in bestimmten Fragestellungen erscheinen (z. B. unter dem Aspekt ihrer physikalischen Beschaffenheit, also in einem naturwissenschaftlichen Sinnfeld). Erkenntnis ist die angemessene Erfassung eines Gegenstandes innerhalb der Regeln eines Sinnfeldes. Alle Phänomene – egal ob materielle oder vorgestellte – werden gleich behandelt. Mit diesem ontologischen Pluralismus werde ein naturwissenschaftlicher Fundamentalismus ebenso wie ein rein konstruktivistischer Ansatz vermieden.

Harman akzeptiert die Position Kants, nach dem wir nur Zugang zu den Dingen haben, wie sie uns erscheinen. Allerdings geht die Wahrnehmung der Dinge für Harman, zu dessen Vorbildern Heidegger, Gilles Deleuze und Bruno Latour gehören, immer mit einem „Übersetzungsfehler“ einher. 

Entitäten oder reale Objekte sind für Harman autonom und können sowohl Tatsachen wie Gedanken über Tatsachen sein. Die Naturwissenschaften hielten es für naiv, reale Objekte als grundlegende Bestandteile der Welt aufzufassen – als Entitäten. In Wahrheit setzten sich die Objekte ihrer Ansicht nach aus Atomen, Molekülen, neuronalen Prozessen usw. zusammen. Genau das aber hält Harman für einen unzulässigen Reduktionismus: Ausgerechnet die Naturwissenschaftler glaubten nicht an die Phänomene, die man sehen könne, sondern nur an das, was man nicht sehen könne: Atome, Elektronen, Quarks, elektromagnetische Strahlung usw. Für Harman stellt das nur eine Regression in Form einer unendlichen Verschiebung dar.

Jedes reale Objekt verfügt nach Harman über zwei Seiten: über eine sinnliche, mit der es mit anderen Entitäten in Kontakt kommt, und über eine reale Seite, die sich allen Beziehungen und Relationen zu entziehen. Die Beziehungen des Menschen zu den ihn umgebenden Objekten sind nicht realer als die Beziehungen zwischen den Objekten. Das Objekt ist Harman zufolge außerdem kein umfassendes Ganzes, sondern weist eine vierfache konfliktreiche Struktur auf: das reale Objekt, das sich der Sichtbarkeit entzieht (die relativ dauerhafte Essenz), mit einem zeitlichen und räumlichen Profil, und das Eidos, das für den Betrachter je nach Entfernung usw. als wechselnde Oberfläche erscheint. Diese vierfache Struktur der Realität erkennt Harman nicht im Sein allgemein, sondern im jeweiligen realen Objekt, das zusammenhanglos neben anderen realen Objekten existiert.

Mit dem Spekulativen Realismus und seiner Ontologie der Objekte (Onticology, ein Term des US-Philosophen Levi Bryant) wird es möglich, über sinnliche Begegnungen zwischen jeglichen Entitäten zu sprechen. So untersucht Levi Bryant in seinem Werk The Democracy of Objects die „Macht“ und das „Potenzial“ von Objekten. Mit dieser Wende entfällt auch der bisherige Fokus der Ästhetik auf die menschliche Wahrnehmung, und die Interaktionen zwischen nichtmenschlichen Instanzen werden auch ästhetisch relevant (z. B. Interaktionen in und Wahrnehmungen von Computernetzwerken).

Auch der Italiener Maurizio Ferraris, der zunächst von Jacques Derrida beeinflusst war, nahm die Realität gegen die von ihm so bezeichnete Willkür des poststrukturalistischen Dekonstruktivismus in Schutz: Dieser würde das ontologische und das epistomologische Denken unzulässig vermengen. Auch den sozialen Objekten komme ein ontologischer Status zu; sie seien immer unabhängiger von den Handlungen einzelner und würden z. B. im Netzen dokumentiert, ohne sich auf „Text“ reduzieren zu lassen.
 
Kritik des anthropozentrischen Naturverständnisses

Die spekulativen Realisten kritisieren, dass die neuere europäische Philosophie und Wissenschaft teils von einem anthropomorphen Vitalismus gekennzeichnet sei. Für Meillassoux ist insbesondere der Tod eine vom Denken des Menschen über sich selbst völlig unabhängige Realität. Die von ihm so bezeichneten Vitalisten mit ihren anthropomorphen Projektionen eines verabsolutierten Geistes (wozu er Fichte und Hegel zählt) erkennen nicht an, dass der Mensch nur ein Ding unter vielen ist.

Für Iain Hamilton Grant, der von Gilles Deleuze beeinflusst ist und an Ideen Schellings anknüpft, den er materialistisch interpretiert, hat jedes Ding zwei Seite: eine in ihrer Singularität wahrnehmbare und eine nicht wahrnehmbare. Auch er kritisiert den Anthropozentrismus der Philosophie nach Kant und Fichte und die Verdrängung des Realitätsbegriffs aus der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Privilegierung des Menschen und die Vernachlässigung der anorganischen Realität in der Philosophie seien durch nichts zu rechtfertigen; die Natur entziehe sich der Erklärung durch menschliche Modellvorstellungen. Sie sei durch ihren material vitalism das eigentliche Subjekt, nicht der Mensch (sog. Neovitalismus).

Ray Brassier kritisiert an der modernen Philosophie, dass sie versuche, mit allen Mitteln den Einbruch des Nihilismus in die Welt zu verhindern und ihr Bedeutung zu verleihen. Er sieht sich eher in der Tradition des philosophischen Naturalismus, in der Gesetze herrschen, deren Sinn wir nicht erkennen können, und bestreitet, dass es sich beim Spekulativen Realismus um eine einheitliche Strömung handle.


Nota. - Das Kernpoblem ist bis heute, dass an den Universitäten die Transzendentalphilosophie allenfalls in ihrer beschränkten Kantschen Halbheit bekannt ist - zuzüglich mancher epigonaler Subtilisierungen, denen unversehens immer wieder dogmatische Rückfälle unterlaufen.

Es ist wahr, dass Fichte seinen Plan, die Kritische Philosophie radikal zu Ende zu führen, auf den letzten Metern aufgegben hat, so dass er heute selbst von Kennern in die Nachbarschaft Hegels gerückt wird wie auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Doch da liegen sie schon bald zweihundert Jahre beieinander, die akademische Zunft hatte genug Zeit, die Mystifikation aufzulösen.

Die Transzendentalphilosophie bestreitet die Existenz der wirklichen Welt so wenig, wie sie sie behauptet. Das ist gar nicht ihr Thema, denn davon kann sie nichts wissen. Ihr Thema ist allerdings, warum es vernünf- tig ist - weshalb der Vernünftige gut daran tut -, in der realen (nicht der transzendentalen!) Erkenntnis ihre Existenz vorauszusetzen. Dass die "kontinentalen" Philosophierer wenig Notiz von den Resultaten der al- lerjüngsten Naturwissenschaften nehmen, mag wohl sein. Doch für die Philosophie haben deren Ergebnisse so wenig Relevanz, wie philosophisches Räsonnement für die Naturwissenschaften - es sei denn, im nega- tiven, regulativen Gebrauch.

Unterm Titel Die Wissenschaftslehre ist materialistisch und sensualistisch habe ich vor Jahren geschrieben: "Die Wissenschaftslehre verträgt sich nur mit einer Realwissenschaft, die streng materialistisch ist, das be- deutet aber nichts weiter als: die nichts anderes gelten lässt, als was sich in Raum und Zeit beobachten lässt. Doch weder sind die Realwissenschaften Metaphysik, noch ist es die Wissenschaftslehre."

Jedes Unternehmen, das geeignet ist, die selbstfällige Borniertheit der sogenannten Systematiker aus der sprachanalytischen Ecke in Verlegenheit zu bringen, kann man nur begrüßen. In positiver Hinsicht wird diese neue Richtung aber wohl mehr zu den reellen Wissenschaften beitragen können, als zur Philosophie. Zum Beispiel, wenn sie den Zufall rehabilitiert und die Naturgesetze als ein spiritualistische Überbleibsel entlarvt...
JE

 

Mittwoch, 26. Dezember 2018

Immer der Nase nach.

 aus Die Presse, Wien,

Geruchssinn und Orientierung gehören zusammen
Sowohl Tests als auch Messung von Hirnarealen sprechen dafür.

Wenn es nach Bierhefe und Schokoladeschnitten riecht, dann sind wir in Ottakring (oder Hernals), sagen die Wiener. Der Geruchssinn hänge auf viel allgemeinere Weise mit der räumlichen Orientierung zusammen, sagen manche Biologen: Er sei sogar in der Evolution entstanden, um Tieren das Zurechtfinden in einer Landschaft zu ermöglichen. Tatsächlich überlappen die Hirnareale, die für diese beiden Fähigkeiten zuständig sind. Forscher um Véronique Bohbot (Montreal) berichten nun in Nature Communications (16. 10.), was sie an 57 freiwilligen Testpersonen gefunden haben: Wer beim Identifizieren von Gerüchen besser abschneidet, tut sich auch bei Orientierungsaufgaben leichter. Für den Zusammenhang spricht auch die Vermessung der Hirne mit Magnetresonanz: Je dicker der rechte mediale orbitofrontale Kortex (mOFC) und je größer der Hippocampus eines Menschen ist, umso besser ist dieser bei beiden Aufgaben. Und bei Patienten mit einer Verletzung im mOFC sind sowohl die Orientierung als auch die Geruchswahrnehmung beeinträchtigt. (tk)



aus scinexx

Wie Geruchserinnerungen entstehen
Neue Verbindung zwischen Geruchssinn und Gedächtnis entdeckt 

Duftende Gedächtnisinhalte: Viele Erinnerungen sind in unserem Gehirn eng mit Gerüchen verknüpft. Forscher haben nun herausgefunden, wie solche komplexen Gedächtnisinhalte zustande kommen. Demnach sorgt eine Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Hirnbereichen dafür, dass ein Dufteindruck gemeinsam mit Informationen zum Wo und Wann abgespeichert wird. Diese Erkenntnis könnte auch für die Alzheimerforschung interessant sein. 

Ob der Duft unserer Leibspeise aus Kindheitstagen oder das Parfum, das wir mit einer geliebten Person verbinden: Manche Gerüche können Erinnerungen an lange zurückliegende Erlebnisse wecken. Plötzlich versetzt uns das, was unsere Nase wahrnimmt, dann in längst vergangene und schon vergessen geglaubte Zeiten zurück. Wohl kaum ein anderer unserer Sinne ist so unmittelbar mit dem Erinnern verknüpft wie der Geruchssinn.

Dieser Zusammenhang zeigt sich auch bei Alzheimer-Patienten. Der Verlust des Geruchssinns ist eines der ersten Symptome dieser neurodegenerativen Erkrankung. Schon bevor die Merkfähigkeit spürbar beeinträchtigt ist, haben viele Betroffene Probleme damit, Alltagsgerüche zu erkennen. Denn bereits in diesem frühen Stadium beginnt unter anderem der sogenannte Nucleus olfactorius anterior zu verkümmern - eine für die Verarbeitung von Gerüchen wichtige Hirnregion, über die Forscher allerdings erst wenig wissen.

Verbindende Nervenbahn

Um mehr über seine Struktur und Funktion zu erfahren, haben sich Wissenschaftler um Afif Aqrabawi von der University of Toronto in Kanada diesem Bereich im Gehirn nun näher gewidmet. Dabei entdeckten sie eine bisher unbekannte Nervenbahn: Sie verbindet den Nucleus olfactorius anterior mit dem Hippocampus, der eine bedeutende Rolle für das Gedächtnis und das kontextuelle Erinnern spielt.

Was würde passieren, wenn man diese Verbindung kappt? Dies testete das Forscherteam bei Experimenten mit Mäusen. Von den Nagern ist bekannt, dass sie sich bevorzugt mit neuen Düften beschäftigen. Im Gegensatz dazu weckt ein Geruch, den sie bereits kennen, weniger ihre Neugier. "Wenn sie diese Präferenz verlieren, bedeutet das, dass sie sich an den eigentlich bekannten Geruch nicht mehr erinnern können", erklärt Aqrabawi.

Unvollständige Erinnerung

Im Geruchstest zeigte sich: Nager, bei denen die Leitung zwischen Hippocampus und Nucleus olfactorius anterior nicht mehr intakt war, kehrten immer wieder zu zuvor bereits gerochenen Duftproben zurück und "erschnüffelten" sie für eine erstaunlich lange Zeit. Sie hatten offenbar ihre Geruchserinnerung verloren. Damit zeigten sie dieselben Symptome wie Alzheimer-Patienten, obwohl ihr Nucleus olfactorius anterior an sich nicht beschädigt war.

Für die Wissenschaftler scheint damit klar: Auch die Verbindung ist entscheidend. Sie glauben, dass über diesen Weg Informationen über Raum und Zeit mit einem sensorischen Eindruck verknüpft werden. "Diese Elemente formen zusammen eine Erinnerung, die sowohl das Was als auch das Wann und das Wo beinhaltet. Aus diesem Grund steigt uns etwa unvermittelt der Duft des Parfums unseres Partners in die Nase, wenn wir an den ersten Kuss mit ihm denken", sagt Aqrabawi. Gelingt es nicht, das Was mit dem Wann und Wo zu verbinden, bleibt die Geruchserinnerung dagegen unvollständig.

Bessere Früherkennung?

"Unsere Ergebnisse zeigen, wie Düfte, die uns in unserem Leben begegnen, zu Erinnerungen werden. Wir verstehen jetzt, welche Schaltkreise im Gehirn das episodische Gedächtnis für Gerüche beeinflussen", konstatiert Aqrabawi. In Zukunft können diese Erkenntnisse ihm zufolge dafür genutzt werden, das episodische Gedächtnis des Menschen sowie Defizite in Sachen Geruchserinnerung bei neurodegenerativen Erkrankungen weiter zu erforschen.

Möglicherweise ergeben sich dadurch auch bessere Diagnoseverfahren für Alzheimer und Co. Schon jetzt verwenden Mediziner Geruchstests, um eine beginnende Demenz unkompliziert und kostengünstig zu erkennen. Solche Tests könnten mit einem besseren Verständnis der zugrundeliegenden neuronalen Mechanismen optimaler gestaltet und somit zuverlässiger werden, wie die Forscher betonen. (Nature Communications, 2018; doi: 10.1038/s41467-018-05131-6)

(University of Toronto, 24.07.2018 - DAL)

Sonntag, 23. Dezember 2018

Das Hirn ist kein Rechenautomat, sondern ein Stratege.


aus welt.de, 10. 10. 2018
 
Das passiert im Gehirn, wenn du die Qual der Wahl hast

Zu viel Auswahl lässt uns schnell verzweifeln. Schuld daran ist unser Gehirn. Verhaltenspsychologen haben nun ganz genau hingeschaut, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir die Qual der Wahl haben. 



Das Gefühl, die Qual der Wahl zu haben, kann uns in den Wahnsinn treiben. Woher soll man auch wissen, welches der zehn Nudelgerichte im Restaurant am besten schmeckt. Geschweige denn, was nach dem umfangreichen Wocheneinkauf zuerst gekocht werden soll.

Falls du glaubst, dass dieses Wohlstandsproblem erst durch den Massenkonsum in der heutigen Zeit entstanden ist, irrst du dich. Wissenschaftler der Universität Kalifornien stießen nämlich schon vor über 20 Jahren auf das Phänomen der Auswahlüberforderung.

Eigentlich wollten die Psychologen nur beweisen, dass eine große Produktauswahl für Kunden attraktiv ist. Für ihre Studie stellten sie in einem Lebensmittelgeschäft 24 Marmeladengläser zum Probieren zur Verfügung. Im zweiten Durchlauf waren es gerade einmal sechs Marmeladensorten.

Der überfüllte Tisch mit den 24 Marmeladengläsern stieß bei den Kunden auf große Nachfrage, und sie probierten fleißig.

Allerdings waren sie überraschenderweise kaum daran interessiert, etwas zu kaufen. Bei den sechs Sorten hielten zwar weniger Menschen an dem Tisch an, jedoch war es zehnmal wahrscheinlicher, dass sie am Ende ein Glas mitnahmen. Eine zu große Auswahl schien die Menschen also letztendlich abzuschrecken.

Psychologen nennen dieses Gefühl Wahlüberlastung.

Wenn das Gehirn mit einer überwältigenden Anzahl ähnlicher Optionen konfrontiert ist, hat es große Mühe, Entscheidungen zu treffen.

So weit, so gut. Was bei diesem Prozess in dem Gehirn genau vor sich geht, konnte vor 20 Jahren mangels technischer Möglichkeiten nicht genauer untersucht werden.

Colin Camerer, Professor für Verhaltensökonomie am California Institute of Technology, führte deswegen erneut eine Studie durch, um das Phänomen der Wahlüberforderung auf kognitiver Ebene zu untersuchen.

Freiwillige Teilnehmer wählten aus Bildersets mit sechs, zwölf oder 24 Bildern aus, welches Motiv sie auf eine Tasse drucken lassen wollen. Während sie ihre endgültige Entscheidung trafen, zeichnete eine funktionelle Magnetresonanztomografie-Maschine die Gehirnaktivität auf. Dabei stießen die Psychologen auf eine besonders hohe Aktivität in zwei Regionen des Gehirns.

Neben dem vorderen Teil des cingulären Cortex, der potenzielle Kosten und Nutzen von Entscheidungen abwiegt, war auch das Striatum, das für Wertebestimmung verantwortlich ist, beim Treffen der Entscheidung aktiv beteiligt.

In den beiden Gehirnregionen zeigte sich die höchste Aktivität, als zwölf Bilder zur Auswahl standen. Bei den sechs und 24 Bildersets waren sie dagegen nicht besonders aktiv.

Die zwei Gehirnregionen wägen gemeinsam das zunehmende Potenzial für Belohnung gegen die Arbeitsmenge ab, die das Gehirn tun muss, um mögliche Ergebnisse zu bewerten. Steigt die Anzahl der Optionen, erhöht sich auch die potenzielle Belohnung. Allerdings pendelt sich diese bei steigenden Auswahlmöglichkeiten ein.

Der Aufwand, die vorhandenen Möglichkeiten zu bewerten, steigt nämlich mit zunehmender Anzahl der Optionen. Unser Gehirn muss also einen Ausgleich zwischen mentalen Anstrengungen und möglichen Belohnungen finden. Schließlich soll am Ende die Belohnung nicht zu niedrig und Anstrengung nicht zu hoch sein.

Von einer zu großen Auswahl profitieren wir demnach nicht. Es wird eher die Gehirnfähigkeit behindert, eine Entscheidung zu treffen.

Die Verhaltenspsychologen schätzen, dass die ideale Anzahl von Optionen zwischen acht und 15 liegt, damit wir uns einigermaßen gut entscheiden können. Natürlich spielt dabei die wahrgenommene Belohnung und die Bewertungsschwierigkeit eine Rolle. 


Nota. - Bin das schon ich, oder ist das erst noch mein Hirn?  - Immerhin läuft es auf dasselbe hinaus. Die Abwägung zwischen nötigem Aufwand und möglichem Gewinn müsste ich vernünftigerweise ja selber auch treffen, doch das Hirn "hat darin mehr Erfahrung" als meine Verunft, es wägt schneller ab. Aber Ich werde ich in eminentem Sinn, indem ich meinem Gehirn ja stets gewissermaßen auf die Finger schaue: Ist das alles richtig? Und ich kann jederzeit Halt! rufen - und mir vornehmen, mich  doch nochmal etwas gründlicher umzusehen. 'Ich' sind wir eigentlich immer nur beide zusammen; einen von beiden allein gibt es in Wahrheit nicht.
JE



Mittwoch, 19. Dezember 2018

Haben Affen Sinn für Musik?

Weißbüscheläffchen
aus scinexx 

Weißbüscheläffchen erkennen strukturelle Abhängigkeiten in Melodien 
Haben Affen einen Sinn für Musik? 

Erbe unserer Vorfahren: Schon die gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Affe könnten einen Sinn für Musik besessen haben. Denn Experimente mit Weißbüscheläffchen zeigen, dass diese strukturelle Abhängigkeiten in Melodien erkennen. Fehlen Töne in einer Melodie, stutzen sie ähnlich wie wir Menschen auch. Bemerkenswert ist diese Fähigkeit auch deshalb, weil sie für die Entwicklung der menschlichen Sprache eine wichtige Rolle spielte. 

Die Musik ist tief in unserer Natur verankert: Schon Ungeborene im Mutterleib reagieren auf Melodien und auch unsere Vorfahren nutzten offenbar schon Musik bei Ritualen und Festen, wie steinzeitliche Musikinstrumente belegen. Doch wann begannen unsere Ahnen ein Verständnis für Musik zu entwickeln oder sogar zu singen? Erbten sie diese Fähig- keiten womöglich schon von ihren äffischen Vorfahren? Immerhin erzeugen alle Affenarten eine Vielzahl an Lauten, doch wie musikalisch die Tiere sind, ist bisher umstritten.

Tonfolgen mit innerer Logik

Auf die musikalische Probe gestellt haben Forscher um Stephan Reber von der Universität Wien nun Weißbüscheläffchen – eine Neuweltaffen-Art, die sich vor über 30 Millionen Jahren von den Altweltaffen und Menschen abgespalten hat. Die Forscher wollten herausfinden, ob diese Affen eine Sensibilität für strukturelle Abhängigkeiten besitzen. Sie ist beispielsweise nötig, um zu erkennen, dass eine Melodie aus aufeinander abgestimmten Tönen besteht – und gilt daher als Vorstufe des Musikverständnisses.

In ihrem Experiment spielten die Wissenschaftler den Äffchen Sequenzen aus Pieptönen vor, die mit einem tiefen Ton begannen und endeten. Dazwischen fand sich eine variable Anzahl von hohen Tönen. Die tiefen Töne bildeten damit den strukturellen Rahmen dieser einfachen „Melodie“. Nachdem die Weißbüscheläff- chen hunderte dieser Sequenzen gehört hatten, wurden zwei neuartige Playbacks vorgespielt: Sequenzen mit dem gleichen Aufbau wie zuvor und Sequenzen bei denen der erste oder der letzte tiefe Ton fehlte.

Blicke als Zeichen des Erkennens

Würden die Affen bemerken, dass bei diesen beschnittenen Melodien etwas nicht stimmte? Wäre das das Fall, spräche dies dafür, dass auch diese Neuweltaffen schon ein rudimentäres Verständnis für musikalische Regeln besitzen. Um das herauszufinden, zeichneten die Forscher auf, wie oft und lange die Äffchen beim Abspielen der Tonfolgen zum Lautsprecher schauten.

Das Ergebnis: Die Äffchen unterschieden tatsächlich zwischen den Playbacks. Sie drehten sich häufiger zum Lautsprecher um, wenn sie vollständige Sequenzen und damit intakte melodische Abhängigkeiten hörten. „Eine solche Präferenz für vertraute Sequenzen wird häufig in Studien an Kleinkindern beobachtet“, erklärt Rebers Kollegin Vedrana Šlipogor.

Nach Ansicht der Forscher deutet diese Reaktion der Affen darauf hin, dass auch sie schon eine Sensibilität für strukturelle Abhängigkeiten besitzen. Dieser wichtige Aspekt von Musik und Sprache könnte demnach schon im gemeinsamen Vorfahren von Alt- und Neuweltaffen und damit auch von Affe und Mensch existiert haben. (Evolution and Human Behavior, 2018; doi: 10.1016/j.evolhumbehav.2018.11.006)

Quelle: Universität Wien


Samstag, 15. Dezember 2018

Kreatives Denken ist alternativ - nicht zusätzlich!

Heureka! Jean Tinguely
aus spektrum.de, 10.12.2018

Alpha-Wellen fördern kreatives Denken 
Bestimmte Hirnwellen im rechten Schläfenlappen unterdrücken gewöhnliche Assoziationen.

von Christiane Gelitz
 
Um auf kreative Ideen zu kommen, müssen wir unsere gewohnten Denkpfade verlassen. Wie genau das Gehirn den Weg zu neuen Ideen freimacht, schildern Wissenschaftler jetzt in den »Proceedings of the National Academy of Science«. Laut ihren vorab beim 18. World Congress of Psychophysiology ver- öffentlichten Befunden ließ das Team um Caroline di Bernardi Luft von der Queen Mary University of London 30 Versuchspersonen nach Verbindungen zwischen Wörtern suchen. Dabei stimulierten die Forscher bei den Probanden mittels Wechselstrom die Hirnaktivität in beiden Schläfenlappen, darunter Regionen, deren Beteiligung an kreativen Prozessen bereits bekannt war.

 Die Tests an drei verschiedenen Tagen zeigten: Die Probanden lösten mehr kreative Aufgaben, wenn bei ihnen der rechte Schläfenlappen stimuliert wurde, verglichen mit dem linken oder mit einer Scheinstimu- lation. Offenbar halfen die elektrischen Schwankungen in einem bestimmten Frequenzband, so genannte Alpha-Wellen, entscheidend dabei, naheliegende Wortassoziationen zu unterdrücken. Hirnwellen dieser Frequenz (zwischen 8 und 13 Hertz) treten in der Regel bei geschlossenen Augen oder im entspannten Zustand auf. Die elektrische Hirnaktivität wird normalerweise nicht künstlich stimuliert, sondern per Elek- troenzephalogramm (EEG) gemessen, um daraus auf die Aktivität großer Zellverbände und die damit ver- bundene Informationsverarbeitung, auf Schlafstadien oder auf pathologische Veränderungen der Hirnakti- vität zurückzuschließen.


Dass die Alpha-Aktivität auf kreative Prozesse im Gehirn hindeutet, ist zwar nichts Neues. Doch die For- scher hoffen, mittels transkranieller Hirnstimulation im rechten Temporalkortex gezielt kreativen Ideen den Weg bahnen zu können. »Wenn wir nach einer alternativen Verwendung für ein Glas suchen, müssen wir zunächst unsere gewöhnliche Perspektive auf ein Glas als Behälter unterdrücken. Die Oszillationen im rechten Temporallappen sind ein Schlüsselmechanismus, um diese offensichtlichen Assoziationen zu über- schreiben.« Mit der verwendeten Methode, der transkraniellen Wechselstromstimulation, ist es anderen Teams ebenfalls gelungen, psychische Vorgänge anzustoßen, etwa luzide Träume. Auch Gleichstrom- oder Magnetstimulation haben sich dabei bewährt.


Nota. - Eigentlich trivial: Eine bestimmte Leistung ist in einer bestimmten Gehirnregion lokalisert und mit Hirnwellen einer bestimmten Frequent assoziiert. Trivial ist dagegen nicht, wie diese Leistung erbracht wird - nicht durch Steigerung und "mehr desselben", sondern durch Entspannung und Aussetzen der ge- wohnten Funktionsweise. So hat es die Gestaltpsychologie immer aufgefasst..

Das ist höchst bedenkenswert für ein Bildungssystem, das Hochleistungsroutine produzieren und Genie keine Chance lassen will.
JE





Freitag, 14. Dezember 2018

Der Neanderthaler in deinem Kopf.

aus derStandard.at,13. Dezember 2018, 17:43                                               Neanderthaler lks., moderner Mensch r.

Wie Neandertaler-Gene unser Gehirn beeinflussen
Zwei bis vier Prozent der DNA heutiger Europäer und Asiaten stammen von Neandertalern. Forscher entdeckten darunter Gene, die Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung haben 

von David Rennert 

Zu den einzigartigen biologischen Merkmalen des modernen Menschen zählt definitiv sein Kopf: Im Vergleich zu früheren Menschenarten wie den Neandertalern haben wir eine ungewöhnlich runde Schädelform. Wissenschafter nehmen an, dass sich der "Rundkopf" bei unseren Vorfahren erst langsam entwickelte und er bedeutende Veränderungen in der Gehirnorganisation widerspiegelt. Womöglich hängen sogar spezifische Verbindungen verschiedener Gehirnareale und damit auch kognitive Fähigkeiten mit der veränderten Kopfform zusammen.

Ein internationales Forscherteam hat sich nun auf die Suche nach Genen und biologischen Mechanismen gemacht, die bei dieser Formwandlung eine Rolle gespielt haben könnten. Wie die Wissenschafter im Fachblatt "Current Biology" berichten, fanden sie dabei nicht nur bemerkenswerte Unterschiede zwischen heute lebenden Menschen, sie stießen auch auf DNA-Fragmente von Neandertalern, die nach wie vor einen Einfluss auf unsere individuellen Schädelformen haben.

Virtuelle Abdrücke

Dass viele von uns ein bisschen Neandertaler in sich tragen, wissen Genetiker schon länger. Genom-Vergleiche brachten ans Licht, dass zwischen einem und vier Prozent der DNA heutiger Europäer und Asiaten vom Homo neanderthalensis stammen – unsere Vorfahren haben sich vor mehr als 30.000 Jahren mit Neandertalern gepaart. Freilich trägt nicht jeder die gleichen Genfragmente in sich, Forscher schätzen daher, dass sich insgesamt an die 40 Prozent des Neandertaler-Genoms, verteilt über nichtafrikanische Populationen, bis heute erhalten haben.

Diesen Umstand machten sich Forscher um Philipp Gunz vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig zunutze. Zunächst erstellten sie aus Fossilien mithilfe computertomografischer Aufnahmen virtuelle Abdrücke des Schädelinneren von Neandertalern und modernen Menschen. Anhand hunderter Messpunkte konnten die Wissenschafter die Gestalt der jeweiligen Gehirnschädel erfassen und vergleichen.
 

Im nächsten Schritt untersuchten sie mittels MRT-Gehirnscans auch die innere Schädelform mehrerer Tausend lebender Menschen. Das Zwischenergebnis: Alle Homo-sapiens-Gehirnschädel unterscheiden sich deutlich von denen der Neandertaler – das war nicht sonderlich überraschend. Allerdings gibt es auch erhebliche Formunterschiede zwischen den heute lebenden modernen Menschen.

Veränderte Genaktivität

Im nächsten Schritt fahndeten die Forscher im Erbgut der Studienteilnehmer nach Neandertaler-DNA, die in diesem Zusammenhang relevant sein könnte. Tatsächlich entdeckten sie auf den Chromosomen 1 und 18 Erbgutfragmente unserer ausgestorbenen Cousins, die mit einer länglicheren Kopfform in Verbindung stehen dürften. Wie sich herausstellte, verändern sie auch die Aktivität der Gene UBR4 und PHLPP1, die wiederum bei der Gehirnentwicklung eine Rolle spielen.

UBR4 ist unter anderem an der Bildung von Nervenzellen in der Großhirnrinde beteiligt. PHLPP1 ist in die Entstehung der sogenannten Myelinscheide, eine Schutzschicht von Nervenzellfortsätzen, involviert. "Die Auswirkungen dieser seltenen Neandertaler-DNA-Fragmente sind subtil, aber aufgrund der Stichprobengröße nachweisbar", sagt Studienkoautor Simon Fisher vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen und fügt hinzu: "Das ist nur der erste Blick auf die molekularen Grundlagen der Gehirngestalt. Wie andere Aspekte der Gehirnstruktur ist auch die rundliche Form ein Merkmal, das wahrscheinlich durch die kombinierten Wirkungen vieler verschiedener genetischer Varianten beeinflusst wird."

Einflussreiches Erbe

Rückschlüsse auf die geistigen Fähigkeiten von Neandertalern lässt die aktuelle Studie aber nicht zu, betonen die Wissenschafter. "Unser Fokus liegt allein auf der Erforschung der ungewöhnlichen Gehirnform des modernen Menschen", sagt Erstautor Gunz und warnt auch noch vor einer anderen Fehlinterpretation: Die Resultate würden nicht bedeuten, dass heutige Menschen mit länglicheren Köpfen genetisch "mehr Neandertaler" sind als andere.

Hinweise darauf, welche Folgen das genetische Erbe der Neandertaler sonst noch für uns hat, liegen inzwischen jedenfalls einige vor: So vermuten Wissenschafter, dass die im Vergleich zu Afrikanern höhere Anfälligkeit der Europäer für Herz-Kreislauf-Probleme ebenso darauf zurückgeht wie ihre effektivere Virenabwehr. Auch bei der hellen Hautpigmentierung und dem Fettstoffwechsel dürfte Homo-neanderthalensis-DNA mitmischen. (David Rennert, 13.12.2018) 

Abstract
Current Biology: "Neandertal introgression sheds light on modern human endocranial globularity"

Donnerstag, 13. Dezember 2018

Von Natur alles Hasardeure?


aus derStandard.at, 7. Dezember 2018,

Unterdrückung bestimmter Neuronen führt zu hemmungslosem Zocken 
Forschern gelang es, das Verhalten von Ratten zu beeinflussen

Wien – Neurowissenschafter haben im Gehirn von Ratten eine Gruppe von Nervenzellen identifiziert, deren Aktivität vorhersagt, ob die Tiere eine risikoreiche Entscheidung treffen oder auf Nummer sicher gehen werden. Unterdrückt man die Aktivität dieser Neuronen gezielt, werden die Ratten zu hemmungslosen Zockern, berichten die Forscher im Fachmagazin "Neuron".

Das Experiment

Die Wissenschafter von der Medizinischen Universität Wien und der School of Medicine der New York University ließen Ratten im Rahmen eines Experiments zwei Wahloptionen: Der eine Weg führte sie mit Sicherheit zu einer kleineren Portion Futter, am anderen Pfad winkte entweder die vierfache Menge oder gar nichts.

Dass der Frontallappen (präfrontaler Cortex) eine wichtige Rolle bei der Handlungsplanung spielt, ist schon lange bekannt. Bei ihren nunmehrigen Untersuchungen erkannten die Wissenschafter aber, dass sich anhand der Aktivität spezieller Neuronen zeitversetzt ablesen ließ, welche Entscheidung die Ratten treffen werden – und zwar auch dann, wenn sich ein Tier nicht erwartungsgemäß und entgegen der vorangegan- genen Erfahrungen verhielt, berichtet das Team um Johannes Passecker.

Verhaltensbeeinflussung

"Außerdem konnten wir durch selektive Manipulation der Gehirn-Aktivität sogar die Entscheidungen der Tiere derart beeinflussen, sodass sie ein höheres Risiko bei ihren Spekulationen eingingen", so Passecker, der die Studie in Wien durchführte und nun an der Columbia University in den USA forscht. Die Wissenschafter brachten dafür spezielle Proteine in die entscheidenden Nervenzellen ein, die sich mit Laserlicht aktivieren lassen. Damit konnten sie beeinflussen, ob die Zellen aktiv werden oder nicht.

Zu Hasardeuren wurden die Ratten, wenn die Hirnforscher die dortige Aktivität gezielt unterdrückten. Unter dieser Voraussetzung gingen die Tiere volles Risiko und zwar auch, wenn sie vorher mit der Strategie anhaltend nicht erfolgreich waren. Stieg die Aktivität stark an, wurde die Sicherheitsvariante gewählt.

Der Entwicklung dieses Prozesses im Gehirn wollen Passecker und Kollegen in weiteren Untersuchungen nachgehen, da diese Abläufe mit Erkrankungen wie Depression oder Spielsucht in Verbindung stehen. "Bei Depression liegt es nahe, dass hier eine zu starke Aktivität* der Neuronen vorliegt", so der Wissenschafter: "Selbst morgens aus der Sicherheit des Bettes zu kommen, wird zu einer oft unüberbrückbaren Herausfor- derung. Bei Spielsucht scheint die Neuronenaktivität im präfrontalen Cortex ebenfalls [?] sehr gering, die Betroffenen verharren im gleichen Muster und sind nicht mehr in der Lage, adäquat massive Spekulations- verluste richtig einzuschätzen und dementsprechend auf die Variante 'Sicherheit' umzuschalten." (APA)

*) Im Standard steht: Inaktivität. JE

Abstract
Neuron: "Activity of Prefrontal Neurons Predict Future Choices during Gambling"



Nota I. - Man könnte erstens annehmen, dass es bei uns Menschen nicht anders ist als bei den Ratten; und zweitens, dass entwicklungsgeschichtlich die Neigung zum Zocken ursprünglicher ist, als die hemmenden Neurone (was beides aber noch gesichert werden müsste). Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass 'wir' - vielleicht alle Säugetiere? - von Natur geborene Hasardeure waren und erst einen Bremsmecha- nismus eingebaut brauchten, um uns zu halten.

Hätte das Folgen für die anthropologische Betrachtung?


*Nota II. Ich habe mich geirrrt! In der Verlautbarung des Instituts steht tatsächlich: In aktivität. Dr. Passecker argumentiert so: "According to Dr. Passecker, with depression, it stands to reason that there is too little neuronal inactivity. Many patients with depression find it extremely hard to move out of their current state of mind. Sometimes, even getting out of bed becomes a major challenge that some find insurmountable." Mysterious, isn't it?
JE