Sonntag, 29. Oktober 2017

Der Gegenstand der Naturwissenschaft ist nicht natürlich.


In der Neuen Zürcher vom 3. August d. J. versöffentlichte Hans-Jörg Rheinberger unter der Überschrift Wissenschaften sind veränderliche Kulturtechniken einen Essay über das Verhältnis von Naturwissenschaft und ihren kulturellen Bedingungen. Der Eingangssatz: "Die Objekte naturwissenschaftlicher Forschung sind nichts Natürliches".

Die Rede von den zwei Kulturen und der Überwindung ihrer Grenzen ist ein Dauerthema seit fünfzig Jahren. So formulierte es der vielzitierte – aber wenig gelesene – C. P. Snow 1959: «Literarische Intellektuelle auf der einen Seite – auf der andern Wissenschafter, und als die repräsentativsten unter ihnen die Physiker. Zwischen den beiden ein Abgrund von Unverständnis – manchmal (besonders unter den Jungen) Feindseligkeit und Abneigung, vor allem aber fehlende Verständigung.»

Und er forderte: «Die Kluft zwischen unseren Kulturen zu schliessen, ist eine Notwendigkeit, und zwar sowohl im ganz abstrakten geistigen als auch im ganz praktischen Sinn. Wenn die beiden auseinandergefallen sind, ist eine Gesellschaft nicht mehr in der Lage, weise zu denken.» 

Um die gleiche Zeit sei der Ruf nach Interdisziplinarität aufgekommen - bis heute nicht wieder verstummt.

Das sollte als Hinweis darauf verstanden werden, dass es dabei um mehr als um eine vergängliche Mode geht. Wir haben es vielmehr mit den Zeichen eines tiefgreifenden Umbaus auf dem Feld der Wissenschaften und ihrer Entwicklung selbst zu tun. War die Klage des Physikers, Schriftstellers und Politikers Snow, der sich allerdings äusserst sicher zwischen den Kulturen zu bewegen wusste, nur die Künderin einer zu Ende gehenden Epoche – eine klassische Eule der Minerva also?

Tatsächlich hätten sich nicht zuletzt in der Naturwissenschaften die im 19. festgeschriebenen Grenzen zwischen den Disziplinen inzwischen verflüssigt.

Die Biologie mit ihren Hybridbildungen von der biophysikalischen Chemie über die Molekularbiologie bis zur synthetischen und Systembiologie bietet ein gutes Beispiel dafür. Um das zu sehen, bedarf es eines nahen Blicks auf die jeweiligen Praktiken der Wissenschaften. Die Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen den Naturwissenschaften und den Kultur- sowie Geisteswissenschaften – jedenfalls so, wie sie im akademischen und im öffentlichen Raum zumeist stattfindet – leidet oft genug darunter, dass sie die jeweils aktuellen Frontverläufe der Forschung in ihrer Verschlungenheit gar nicht zur Kenntnis nimmt.


Werfen wir einen Blick auf den biologisch-technischen Komplex, für den gegenwärtig das Schlagwort einer «synthetischen Biologie» immer mehr in Gebrauch kommt. Die Forschungsgegenstände in diesen Bereichen – zugleich prospektive Anwendungsobjekte – sind in der Regel nicht mehr allein durch ihre natürlichen – seien sie physikalisch, chemisch oder biologisch – oder technischen Seiten bestimmt. Sie sind mehrfach hybride Gegenstände geworden, in denen sich Aspekte sowohl von Natur wie auch von Kultur untrennbar miteinander verbinden und sich auch nur verantwortlich handhaben lassen, wenn diese Verbindung nicht ausgeklammert wird.

Kurz gesagt: Das technisch-kulturelle Potenzial bestimmt, was epistemisch, und das epistemische Potenzial bestimmt, was technisch-kulturell relevant werden kann. Damit sind wir bei einer Konstellation des Verhältnisses von Natur und Kultur angelangt, die uns nicht nur dazu einlädt, sondern auch herausfordert, unsere Aufmerksamkeit diesen beiden Kategorien zuzuwenden und sie selbst in ihrer Entstehung und in ihrem historisch wechselnden Zueinander zu betrachten.

Insbesondere scheint mir, dass es für beide Seiten – die Naturwissenschaften wie die Geisteswissenschaften – immer wichtiger wird, ein Bewusstsein für die Veränderungsdynamik der für sie jeweils spezifischen Forschungsgegenstände zu entwickeln. Die Gegenstände des Wissens wie die Anwendungen dieses Wissens haben alle ihre historischen Trajektorien, die entscheidend davon abhängen, welche Möglichkeiten des Zugriffs auf sie sich jeweils eröffnen. Der Bedeutung dieser Zugriffsmöglichkeiten muss eine historische Epistemologie nachgehen.

Es ist also entscheidend, sich der Geschichtlichkeit und damit auch der kulturellen, technischen und sozialen Vermitteltheit der Gegenstände bewusst zu werden, die unsere wissenschaftliche Welt bevölkern.

Manchmal sind es verzweigte und verzwackte Geschichten, sie sind von unterschiedlicher Dauer, von unterschiedlicher Durchschlagskraft, und zuweilen können die ihnen entsprechenden Gegenstände wissenschaftlichen Interesses auch wieder verschwinden. Die historische Entwicklung von Disziplinen ist ja selbst letztlich nichts weiter als der organisatorische und institutionelle Ausdruck der grundlegenden Dynamik eben genau dieser wissenschaftlichen Objekte. Es ist also entscheidend, sich der Geschichtlichkeit und damit auch der kulturellen, technischen und sozialen Vermitteltheit der Gegenstände bewusst zu werden, die unsere wissenschaftliche Welt bevölkern – und eben nicht nur der Theorien und Begriffe oder abstrakter methodologischer Prinzipien wie Verstehen und Erklären.

Hans-Jörg Rheinberger ist Emeritus Scientific Member des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Im vergangenen Jahr ist (bei Diaphanes) sein Buch «Der Kupferstecher und der Philosoph. Albert Flocon trifft Gaston Bachelard» erschienen.


Nota. - Die Kritik an der Künstlichkeit der Gegenstände experimenteller Naturwissenschaft kam gleichzeitig mit der Einführung des experimentellen Verfahrens durch Fr. Bacon auf. In ihren Laboren quälten, folterten und verstümmelten die Forscher die lebendige Natur, und deren abgezwungene Auskünfte seien so unverlässlich wie die Geständnisse eines Angeklagten unter der Tortur. 

Freilich war das ein emphatisches Bild von der Natur und kein reduktionistisches; doch Bilder sind sie beide.

Die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften wurde von Wilhelm Dilthy systematisiert, und umgangssprachlich tut sie bis heute gute Dienste. Aber erkenntnislogisch ist sie irreführend, wie bereits Diltheys neukantianische Zeitgenossen vermerkten: Der Gegenstand der Naturwissenschaften ist vom systematisierenden Geist des Forschers intentional entworfen, und indem er sich mit ihm befasst, befasst er sich - in zweiter Instanz - ebenso mit 'dem Menschen' wie in erster Instanz die Geisteswissenschaften. Nicht nach ihren Gegenständen, sondern nach ihren Erkenntniswegen müssten die Wissenschaften unterschieden werden: in solche, die ("nomothetisch") allgemeine Gesetze für mannigfaltige Phänomene aufstellen; und solche, die ("idiographisch") einzelne Phänomene umfassend beschreiben wollen.  

Jede Forschung verfährt nomothetisch, wenn und indem sie sich mathematischer Formeln bedient. Was mathematisch dargestellt wird, wird als Gesetz dargestellt. Allerdings hat nicht die Natur die Mathematik hervorgebracht. Vielmehr hat ein mathematisches Weltbild das hervorgebracht, was wir heute unter Natur verstehen; es ist ein Zirkel.

Wenn H.-J. Rheinberger den Gegensatz von Natur- und Kulturwissenschaften irgendwie übersteigen will, kann ihm das immer nur nach dieser einen Seite hin gelingen: Im 'Naturgegenstand' steckt immer schon mehr Kultur, als im Kulturereignis natürlicher Stoff...
JE

















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