Montag, 12. September 2016

Unkosten der Zivilisation.


aus nzz.ch, 26. 8. 2016

Tuberkulose
Am Anfang war das Feuer
Infektionskrankheiten stammen oft aus dem Tierreich. Bei der Tuberkulose dürfte es anders gewesen sein, wie ein Blick in die Frühgeschichte der Menschheit nahelegt.

Von Hermann Feldmeier

Als unsere Vorfahren vor etwa 300 000 Jahren lernten, Feuer auch unter widrigen Umständen zu entfachen, zu unterhalten und zu nutzen, war das so etwas wie ein technisch-kultureller Quantensprung. Feuer generierte Wärme und Licht, und das unabhängig von der Jahres- und Tageszeit. Lebensmittel konnten auf einmal so zubereitet werden, dass sie besser verdaulich waren und aufbewahrt werden konnten. Schliesslich schützte das Feuer auch gegen wilde Tiere und Insekten, inklusive solcher, die virale, bakterielle oder parasitäre Krankheitserreger übertrugen. Parallel zur Nutzung von Feuer veränderte sich auch das tägliche Leben unserer Urahnen. Es entstanden neue Aktivitätsmuster und soziale Strukturen.

Paläoanthropologen sind deshalb der Meinung, dass die systematische Nutzung von Feuer durch Homo heidelbergensis – der letzte gemeinsame Vorfahre des Neandertalers und des anatomisch modernen Menschen – zur Entstehung einer ökologisch-kulturellen Nische führte, die den Menschen zum ersten Mal in seiner Geschichte befähigte, die Umwelt selektiv zu verändern und Randbedingungen für eine zukünftige Entwicklung festzuschreiben. Dieser evolutionäre Meilenstein – so die provokante These einer Gruppe australischer Wissenschafter – blieb jedoch nicht ohne gesundheitliche Folgen. Er war vielmehr die Voraussetzung für die Entstehung einer Infektionskrankheit, die in der Seuchengeschichte der Menschheit ohne Präzedenz ist: die Tuberkulose.

Um ihre in der Fachzeitschrift «Proceedings of the National Academy of Sciences» präsentierte Hypothese zu untermauern, haben die Forscher aus Sydney und Melbourne Indizien aus Paläoanthropologie, Evolutionsgenetik und Mikrobiologie zusammengetragen und mit Kenntnissen über die Entstehung von Lungenkrankheiten ergänzt. Kernglied in ihrer Beweiskette ist der Rauch, der bei der Verbrennung von Holz in einem offenen Feuer entsteht.

Aggressive Gase und Ruß

Wie man von Ausgrabungen weiss, wurden Feuerstätten in vorgeschichtlicher Zeit typischerweise in Höhlen oder Erdlöchern unterhalten. Personen, die am Feuer hantierten oder dort Schutz suchten, waren intensivem Rauch ausgesetzt. Dieser enthält aggressive Gase wie Kohlenmonoxid, Stickoxide und Aldehyde sowie Russ und andere partikuläre Substanzen, die zu einer Schädigung der Atemwege führen können.

Die Folgen einer chronischen Rauchexposition sind eine Entzündung der Schleimhäute in den Bronchien, die Zerstörung von Zellbarrieren, die gegen Keime schützen, und eine Einschränkung der körpereigenen Abwehr. Diesen Krankheitsmechanismus hat die Medizin am Beispiel der Raucher- und Staublunge (Silikose) bis auf die molekulare Ebene hinunter bewiesen.

Mit grosser Wahrscheinlichkeit war der «Urvater» des heutigen Tuberkuloseerregers ein Umweltbakterium wie tausend andere, die in afrikanischen Steppen im Erdboden oder auf Pflanzen lebten. Schon vor der Nutzung von Feuer wird sich der eine oder andere Hominide mit dem Urmykobakterium angesteckt haben. Der Erreger dürfte jedoch nur ein geringes krankmachendes Potenzial gehabt haben; das heisst, die Infektion verlief mild und war nicht ansteckend. Tatsächlich gibt es auch heute noch einzelne Vertreter in der grossen Familie der Mykobakterien, etwa M. kansasii, die aus der Umwelt stammen, gelegentlich einen Menschen infizieren, aber nicht auf eine gesunde Person übertragen werden können.

Erst mit der Nutzung des Feuers änderte sich das «Kräfteverhältnis» zwischen Mikroorganismus und Mensch grundlegend: Tanzende Füsse um ein Feuer wirbelten Staub auf. Infektiöser Staub entstand auch beim Zerkleinern von Brennholz, und Wind trug Staub über weite Entfernungen, wenn Homo heidelbergensis mit Feuer die Savanne abbrannte. Über den Staub atmeten die Menschen das Urmykobakterium ein.

Wie die australischen Forscher schreiben, machte der Einfluss von Feuerrauch aus einem ungefährlichen Bodenkeim einen gefährlichen Erreger. Dieser fand in den geschädigten Atemwegen eine perfekte Nische, um ein durch Gase und Partikel beeinträchtigtes Immunsystem auszumanövrieren und sich in der Lunge zu etablieren. Die dazu benötigten genetischen Anpassungen dürfte der Vorläufer von Mykobakterium tuberculosis in wenigen tausend Jahren geschaffen haben, einer für die Evolution kurzen Zeit.

Der veränderte Lebensstil – abends rückten die Menschen am Feuer eng zusammen und legten sich dicht an dicht schlafen – und der enge Körperkontakt beim Zubereiten von Speisen und bei der Herstellung von Küchenutensilien machten eine Übertragung des neuen Erregers in grossem Stil möglich. Immer häufiger dürften mehrere Personen einer Gruppe infiziert gewesen sein, und der zunehmende Kontakt mit anderen Gruppen dürfte zu einer Ausbreitung von M. tuberculosis in immer neue Gebiete geführt haben.

Mensch hat Tiere angesteckt

Gesichert ist, dass der Tuberkuloseerreger erst Tausende von Jahren nach der Nutzung des Feuers auf Tiere übertragen wurde, die sich im Umkreis des Menschen aufhielten. Phylogenetische Untersuchungen haben nämlich gezeigt, dass beispielsweise M. bovis, der Verursacher der Rindertuberkulose, vom Menschen abstammt und nicht umgekehrt. Das ist auch insofern plausibel, als der Mensch die einzige Spezies war und ist, die Feuer nutzt und so eine chronische Schädigung der Atemwege entwickelte, die einem opportunistischen Mikroorganismus die Tür für eine chronische Infektion öffnete.

Um ihrer These auch ein mathematisches Fundament zu geben, erstellten die australischen Paläoanthropologen und Evolutionsbiologen ein Computermodell, in dem sie feuerassoziierte Verhaltensmuster, toxische Auswirkungen der Inhalation von Rauch sowie die Anpassungsgenetik von bakteriellen Mikroorganismen in Bezug setzten. Wie die Modellrechnung zeigte, erhöhte sich mit der Feuernutzung die Wahrscheinlichkeit für die Tuberkulose beim Menschen um das Zehntausendfache. Damit illustriert die Studie, wie technisch-kulturelle Quantensprünge komplexe Reaktionsketten in Gang setzen können, welche die Menschheitsgeschichte über Tausende von Jahren bestimmen und – wie im Fall der Tuberkulose – zu einem globalen Gesundheitsproblem führen.


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