Dienstag, 19. Juli 2016

Was weiß der Naturforscher vom freien Willen?

aus Neue Sammlung, 45. Jg., 1/2005, S. 159-166

Über ein aktuelles Thema der Hirnphysiologie

Abstract
Das Feld der Naturwissenschaft ist konstituiert durch das Kausalprinzip. Wo Kausalität ist, ist für Freiheit kein Raum. Kein Wunder also, daß die Hirnforschung einen Sitz des freien Willens nicht "finden" konnte. Der Mensch ist nämlich kein Naturprodukt. Als einziges Lebewesen hat er seine angestammte Umwelt verlassen und ist in eine offene Welt aufgebrochen. Diese Welt ist keine Ansammlung von Dingen, sondern ein Raum von Bedeutungen. Es gibt ihn nur für den, der danach fragt. Und anders "gibt es" auch keine Kausalität
Ich bin meine Welt.
Ludwig Wittgenstein* 

Seit den fünfziger Jahren galt die Kernphysik als Königin und Leitbild der Wissenschaften. In den Achtzi-gern trat die Molekularbiologie an ihre Stelle. Inzwischen ist die Hirnforschung an der Reihe. Und das macht einen Unterschied! Denn von "Lebenswissenschaften" ist auf einmal die Rede, und das klingt so, als könnten die Naturforscher neuerdings über Dinge urteilen, die früher Sache von Philosophie und Geistes-wissenschaften waren. Seit zwei, drei Jahren diskutieren Naturwissenschaftler, ob es einen freien Willen gibt.

Die Neurophysiologie zeigt uns die Stellen im Kopf, wo das Bewußtsein entsteht; und - in einem technischen Sinn - sogar, wie. Kann sie auch erklären, was das Bewußtsein ist? Und was in ihm vorkommt? Der wunde Punkt ist natürlich das Ich. Es sei "eine Illusion, daß wir im Gehirn ein Kommandozentrum haben, in dem das Ich residiert und wertet, entscheidet und befiehlt", sagt der Hirnforscher Wolf Singer. Stattdessen müßten wir uns "das Ich als einen räumlich verteilten, sich selbst organisierenden Zustand denken"1 - quasi immer nur ad hoc.

Seit es sie als solche gibt, verstehen sich die Naturwissenschaften heimlich oder unverhohlen als Inbegriff des wahren Wissens.2 Sie sind methodisch exakt und lassen nichts gelten, was sie nicht experimentell überprüfen können. Demgegenüber hatten die (heute wieder so genannten) Moral Sciences, die sich nicht mit der Natur, sondern mit dem handelnden Menschen beschäftigen, einen wackligen Stand. Sie können keine ‚Gesetze’ postulieren, die sie nur noch empirisch prüfen müßten, denn ihre Grundvoraussetzung sind das Ich und seine Freiheit. Die Menschen machen ihre Geschichte wohl nicht aus freien Stücken, sagt Marx, aber sie machen sie selbst. Täten sie es nicht, dann herrschte in ihren ureigensten Angelegenheiten entweder blinder Zufall und es ließen sich darüber keinerlei sinnvolle Aussagen treffen; oder es walten fremdartige "Kräfte", die der Menschheit wie die antiken Götter von außen ihre Schicksale zudiktieren. Sollen indes Einsichten möglich werden, die sinnvolles Handeln begründen können, dann bleiben in den Moral Sciences Freiheit und Ich zwar nicht als Erklärungsgrund im Einzelnen, wohl aber als Rechtsgrund im Ganzen unhintergehbar. Ohne die ist ihr Wissen hinfällig.

Vor-Entscheidungen

"Im Bezugssystem neurobiologischer Forschung gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene", schreibt Wolf Singer.3 Wenn die Argumente der Hirnphysiologen im Bezugssystem neurobiologischer Forschung verblieben wären, gäbe es gar keine Kontroverse. Sie beanspruchen aber, mit ihren neuen Ergebnissen in die Prämissen anderer Wissensfelder einzugreifen: "Unaufschiebbar werden schon jetzt Überlegungen über die Beurteilung von Fehlverhalten, über die Beurteilung von Schuld und unsere Begründungen von Strafe."4 Und für die Pädagogik entscheidet die Frage nach der persönlichen Verantwortung geradezu über Sein oder Nichtsein.

Eine neue Frage ist es allerdings nicht, die die Hirnforscher mit ihren neuen Forschungsresultaten da aufwerfen. Es ist der alte Hut der Kausalität. Wenn nämlich der frühere Zustand den späteren Zustand ‚determiniert’, dann handelt es sich um ein Verhältnis von "Ursache" und "Wirkung", was wohl sonst? Der Satz, daß nichts ohne zureichende Ursache geschieht, ist indessen kein Forschungsergebnis, das sich überprüfen ließe, sondern eine Prämisse. Er ist, indem er die Physik begründet, der Grund-Satz aller Naturwissenschaft: da durch ihn, und nur durch ihn, jeder rationelle Begriff von ‚Natur’ überhaupt erst möglich wird. Auf ihm "beruht" die Naturforschung ebenso sicher wie die Mathematik auf ihren Axiomen. In beiden Fällen ist nichts "erwiesen", sondern wird als gültig lediglich angenommen. Aber in beiden Fällen bewährt sich die Annahme durch die Leistungen, die sie ermöglicht.5

Mit einem kleinen, feinen Unterschied: Ihre Mathematik machen die Mathematiker selber. Deren Gegenstände sind nichts anderes als ihre eigenen Operationen. Wenn dank ihrer Prämissen ihre Operationen gelingen, sind alle Probleme aufgelöst, es bleibt kein unerklärter Rest. Die Gegenstände der Realwissenschaften machen die Wissenschaftler aber nicht selber. Dort können sich die Prämissen nur pragmatisch bewähren: regulativ am einzelnen Fall, sie helfen beim Auffinden von Erkenntnissen;6 sind selber aber keine Erkenntnis, die ihrerseits etwas begründen könnte.

Wie ist das aber heute? Sie haben kein Ich finden können; da treten die Naturforscher den Moral Sciences entgegen und sagen: Wir haben unsere Kausalität, und ihr habt nix. Doch da sind sie im Irrtum. Sie haben ihre Kausalität gerade so schlecht und so recht wie die Moral Sciences ihren freien Willen.

Der Allverursacher

Die Logisierung, nämlich Mathematisierung der Welt durch Descartes und Newton im 17. Jahrhundert gilt als der Sieg der Vernunft über den Mythos. Wissenschaftlich und rational ist nur jene Weltbetrachtung, die alles Sicht- wie alles Denkbare unter die Kategorie von Ursache und Wirkung faßt. Dabei ist das selber ein Mythos, wenn auch einer von höherer Ordnung. Die alten Mythen erzählten - anders als die Wissenschaft, die in allgemeinen Sätzen spricht - immer von besonderen Ereignissen, die sinnbildlich auf Mehr deuten. Dieser moderne Metamythos handelt aber von Allem und Jedem.

Spinoza hat ihn zum mechanischen Universalsystem ausgetüftelt:7 Der Erste Verursacher - deus sive natura - konstruiert sich ordine geometrico zur Welt. Da hat die Kausalität keine Lücke - Determiniertheit aller Orten. Die Willensfreiheit war auch für ihn das große Skandalon. "Die Menschen täuschen sich darin, daß sie glauben, sie seien frei. Diese Meinung besteht bloß darin, daß sie sich ihrer Handlungen bewußt sind, die Ursachen aber, wovon sie bestimmt werden, nicht kennen. Das also ist die Idee ihrer Freiheit, daß sie keine Ursache ihrer Handlungen kennen. Denn wenn sie sagen, die menschlichen Handlungen hängen vom Willen ab, so sind das Worte, von welchen sie keine Idee haben. Was der Wille ist und wie er den Körper bewegt, wissen sie ja alle nicht, und diejenigen, die etwas anderes vorgeben und einen Sitz und Aufenthalt der Seele erdichten, erregen damit nur Lachen und Verdruß."8 Substanziell mehr haben die Hirnphysiologen unserer Tage in dieser Sache auch nicht vorgebracht.

Wenn ich mich einmal entschlossen habe, den Fluß des wirklichen Geschehens in eine zeitliche Folge von Zuständen aufzulösen, und ferner entschlossen bin, das Nacheinander der Zustände als ein Machen aufzufassen, dann werde ich, was Wunder, allenthalben Ursachen und deren Folgen antreffen. Aber aus welchem Rechtsgrund durfte ich so verfahren? "Wir wissen mit mehr Deutlichkeit, daß unser Wille frei ist, als daß alles, was geschieht, eine Ursache haben müsse", sagt Lichtenberg;9 könne man also nicht das Argument umkehren und sagen: Unsre Begriffe von Ursache und Wirkung "müssen sehr unrichtig sein", weil unser Wille sonst nicht frei sein könnte?

Sein älterer Zeitgenosse David Hume hatte die Idee der Kausalität bereits zwar nicht für unrichtig, aber doch für rational unhaltbar erklärt.10 Die Vorstellung, daß das, was post hoc - nach-jetzt - geschieht, propter hoc geschähe: wegen-jetzt, sei eine bloße Gewohnheit der alltäglichen Anschauung ohne jeden vernünftigen Grund. Noch kein Mensch hat sich bei dem Satz, daß Etwas ist, "weil" etwas Anderes vorher war, je wirklich etwas denken können - es sei denn, er hat sich einen Macher hinzugedacht. Als Descartes und Newton seinerzeit die moderne, wissenschaftliche Weltanschauung begründeten, haben sie das nicht verhohlen: In ihrer mathematisierten ‚Natur’ wurde die Kausalität durch "wirkende Kräfte" gewährleistet, die der Schöpfer ihr eingepflanzt hatte; mechanische Kräfte: Druck und Stoß. Als etwa Newton ins Weltall die "Anziehungskraft" einführte, fehlte ihm im leeren Raum ein Medium, durch welches sie ‚übertragen’ werden konnte; also wurde gleich der ‚Äther’ mit hinzu erfunden! Im folgenden Jahrhundert obsiegten dann die Empiriker. Wirkende Kräfte waren experimentell nicht nachzuweisen. Auf den Sensualisten Locke folgte der Skeptiker Hume.

Alles hat seine Zeit, seit den Revolutionen der Thermodynamik ist Newtons Physik überholt, und in Einsteins Universum ist an wirkende Kräfte schon gar nicht mehr zu denken. Wer heute in der Wissenschaft die Kausalität nicht heuristisch-regulativ, sondern als Begründung verwenden will, muß sich seinen Macher klammheimlich hinzudenken. Wer etwas anderes vorgibt, erregt... Lachen und Verdruß.

Denn natürlich ist der Satz, daß nichts ohne zureichende Ursache geschieht, viel älter als Newton und alle Wissenschaft. "Ich bemerke etwas und suche nach einem Grund dafür, das heißt ursprünglich: Ich suche nach einer Absicht darin und vor allem nach einem, der Absicht hat, nach einem Subjekt, einem Täter: alles Geschehen ein Tun - ehemals sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit. Die Frage ‚warum?’ ist immer die Frage nach der Causa finalis, nach einem ‚Wozu?’ Was uns die Festigkeit des Glaubens an Kausalität gibt, ist nicht unsere Gewohnheit des Hintereinander von Vorgängen, sondern unsere Unfähigkeit, ein Geschehen anders interpretieren zu können als ein Geschehen aus Absichten. Es ist der Glaube, daß alles Geschehen ein Tun sei, daß alles Tun einen Täter voraussetzt", sagt Nietzsche.12

Das führt uns zu folgender schwindelerregenden Konsequenz: "Der populäre Glaube an Ursache und Wirkung ist auf die Voraussetzung gebaut, daß der freie Wille Ursache sei von jeder Wirkung. Erst daher haben wir das Gefühl der Kausalität."13 Allerdings ist es nicht der freie Wille von dir und mir, sondern der freie Wille des Welturhebers. Wenn alles seine Ursache hat, dann muß am Anfang der Kette eine Erste Ursache stehen.14 Mit der Kausalität glaubten die Menschen, den Urheber bei der Arbeit belauscht zu haben: Die Natur hat einen "Plan". Nichts tut sie ohne Bedacht. Und vergeudet nichts! Die Kausalität ist eine säkulare Theologie. Sie gehört zum Bild von der Natur als einem Haushälter. Sie ist die Apotheose der bürgerlichen Gesellschaft.

Reich des Machbaren

Bekanntlich war es Humes siegreicher Angriff auf die Kausalität, der Immanuel Kant aus seinem "dogmatischen Schlummer" gerissen und die Kopernikanische Wende von der metaphysischen Spekulation zur Kritischen Philosophie veranlaßt hatte. Nicht in der Natur, die wir betrachten, hätten Kategorien wie Kausalität und Notwendigkeit ihre Ursache, sondern in den transzendentalen Voraussetzungen unserer Betrachtungsweise.

Wo die Menschen diese Voraussetzungen herhaben, hat Kant nicht erötert. Er läß durchblicken, daß er eine Vermutung habe, aber ausgesprochen hat er sie nicht. Jürgen Habermas war - hundert Jahre nach Marx - weniger delikat: "Die Leistungen des transzendentalen Subjekts haben ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung",15 und die hat sie in den letzten zweieinhalb Millionen Jahren, seit sie ihre Urwaldnische verlassen hat und aufrecht geht, selbergemacht. Was aber war die pragmatische Grundlage, auf der die Menschen in ihrer fraglichen, weil offenen Welt Erfahrungen, die ihnen als Wegmarken dienten bei ihrer Lebensführung, überhaupt machen konnten? "A beabsichtigt, p herbeizuführen. A glaubt, daß er p nur dann herbeiführen kann, wenn er a tut. Folglich macht sich A daran, a zu tun."16 Das ist es, was Georg H. von Wright den "praktischen Syllogismus" nennt: "das Schema einer auf den Kopf gestellten teleologischen Erklärung". Es ist die Urform allen Syllogismus, die Urform unseres logischen Schlußfolgerns schlechthin.

Indes, ein Raum, in dem es vor allen Dingen auf das Verfolgen von Zwecken und auf das Kalkulieren der geeigneten Mittel, wo es aufs Haushalten ankommt, ist die Welt nicht an und für sich, und jedenfalls nicht immer gewesen. Sie war es nicht - und ist es bis heute nicht - im Lebensraum der Jäger und Sammler, die von einem wirtlichen Ort zum nächsten ziehen, bis sie auch den abgeweidet haben und ihr Wanderleben fortsetzen. Erst als unsere Vorfahren nach zwei Millionen Jahren das Wandern aufgaben zugunsten von Ackerbau und fester Wohnstatt; als mit der Arbeitsteilung der Austausch begann und das Berechnen des Gewinns; erst als das Wirtschaften anfing und aus den isolierten Wandergruppen eine Gesellschaft erwuchs, mußte aus den vielfältigen, phantasievoll animierten Welt-Bildern der Naturvölker eine gemeinsame Welt hervorgehen. Ihr Grundcharakter ist Machbarkeit. Seither haben die aktuellen Probleme aus unserer haushälterischen Welt von Zweck und Mittel, von Ursache und Wirkung die gedankliche Täigkeit der Menschen so vordringlich beherrscht, daß schließlich ‚unserer’ Welt auch der logische Vorrang vor den individuellen Welten eines jeden Einzelnen zugefallen ist. ‚Meine’ Welt erscheint seither als eine schadhafte, unvollständige, als eine Fehlform "der" Welt: das Kind, der Wilde, der Narr. Der Erwachsene, der "Gebildete" lebt selbstverständlich ganz und gar in unserer Welt.17

Welt-weites Netz

Die logische Priorität unserer vor meiner Welt gehört nicht zum Wesen der Sache und ist nur eine historisch gewachsene optische Täuschung.

Im Lauf der Evolution hat sich eine jede Gattung ihre passende biologische Nische eingerichtet und zu einer Umwelt umgewidmet, wo die Bedeutung eines jeden Dings für das Individuum festgeschrieben ist durch seinen Platz im ökologischen Geflecht.18 Als unsere Urahnen von den Bäumen stiegen und aus der angestammten Urwaldnische zu ihrer Wanderschaft in einen fremden weiten Raum aufbrachen, mußten sie sich nicht nur auf zwei Beine erheben, sondern auch den Verlust ihres ererbten Bedeutungsrahmens (über-)kompensieren: indem sie für das Neue neue Bedeutungen erfanden, in Symbolen objektivierten, in den fragwürdig offenen Raum hinein projizierten und zu einem world-wide web19 verknüpften.

Diese Welt "gibt es" nur im Denken, und auch nur, wenn sie von jedem Neuankömmling neu gedacht wird. Was die Dinge seiner Umwelt dem Tier bedeuten, "versteht sich von selbst" - da muß es das Tier nicht auch noch verstehen. Ein Mensch hat eine Welt aber nur, wenn er sie versteht. Das ist eine Vorstellungsarbeit: Wenn alle Dinge "eine Bedeutung haben", ermöglicht und erfordert diese ihre gemeinsame Qualität, sie als eine Gesamtheit aufzufassen, indem die Bedeutung des Einen zur Bedeutung des Andern ins Verhältnis gesetzt wird, so daß schließlich die Bedeutung eines Jeden in den Bedeutungen aller Andern ihre Grenze findet. Die Welt ist dann die Totalität der Verweisungszusammenhänge.

Logisch mag man das Verhältnis umkehren: indem man die (gedachte) Totalität aller (möglichen) Verweisungen als Inbegriff der Welt an den Anfang setzt und die tatsächlich stattfindenden Verweisungen und schließlich die je einzeln "ursächlich" bestimmt-werdenden Bedeutungen daraus hervorgehen läßt; wie in den metaphysischen Systemen des 17.und 18. Jahrhunderts, in denen sich - als Inbegriff unserer Welt - die Marktwirtschaft und die bürgerliche Gesellschaft ankündigten.20

Doch wenn es auch so wäre, daß die Welt, einmal erfunden, gegeben ist wie es die tierischen Umwelten sind - so muß sie sich jeder Neuankömmling doch jedesmal wieder aufs Neue aneignen. Er konstruiert sich seine Welt nicht aus freien Stücken, aber er konstruiert sie selbst. Und er könnte das mehr oder weniger tun. Wenn ihm das auch am vorgegebenen Material leichter fällt als den abertausenden Generationen vor ihm, die alles erst erfinden mußten - im Prinzip ist es doch "so gut, als ob" er mit dem Bedeuten der Dinge ganz von vorn anfinge. Und die ‚erste’, elementare Bedeutung: die Scheidung von Ich und Nichtich. Indem ich ein Anderes "bedeute", bedeute ich ipso facto ‚mich’ als das Andere dieses - und jedes andern - Andern. In einer natürlichen Umwelt kann es ein Ich nicht geben. Aber ohne Ich kann es die Welt nicht geben.

Ich in der Welt

Meiner Welt liegt unsere Welt gewissermaßen zu Grunde. Und unserer Welt liegt meine Welt zu Grunde. Das einemal kategorisch, das andermal genetisch. Daß ich überhaupt darauf komme, die Daten, die mir meine Sinne melden, zu einer "Welt" zu konstruieren, liegt daran, daß ich in die Welt der Andern hineingeboren bin. Und daß ich vor diesem Horizont meine Welt konstruiere, liegt daran, daß es meine Sinne sind, die mir ‚Daten’ gemeldet haben, und daß ich sie zu einander fügen muß. Daß ich meine Welt konstruieren muß, liegt an den Andern. Daß es diese Welt sein wird, liegt... an meinen Sinnes-Daten, die dadurch, daß ich eine Welt aus ihnen baue, zu den meinen überhaupt erst werden!

"Ich" konstruiere eine Welt. Es wird meine Welt sein: Darum bin ich Ich. Aber zu unserer Welt gehöre ich auch, das ist ja das Problem! Unsere Welt wird von Ursachen und Wirkungen zusammengehalten, aber in meiner Welt wirke ich selbst, und nun muß ich wissen, was ich da draußen soll, weil ich sonst mein Leben dort nicht führen kann. Die Befähigung, mein Leben in meiner Welt und in unserer Welt zugleich zu führen, ohne in die Irre zu gehen, nennt man Bildung. Der Vereinigungspunkt, von dem aus ich beide Welten zugleich überschaue, ist die Idee, nach der ich mich richten zu sollen glaube. 21 Wie ohne ihn Erziehung überhaupt möglich wäre, ist nicht abzusehen. Ob "Ich" dafür der am besten geeignete Name ist, darüber mag man ja streiten. Aber auch mit den Naturforschern?

Fragend

Im Unterschied zu den tierischen Umwelten ist die Welt - unsere und die meine - gar keine Gegend, sondern nur deren Horizont. Denn im geschäftigen Alltag begegnen mir immer nur Dinge - dies und das und jenes, und das meiste davon kenne ich. So erging es auch unsern Urahnen, als sie aus der angestammten Urwaldnische ins weite, offene Feld ausbrachen: Dies und das war ihnen vertraut und bedeutete, was es schon immer bedeutet hatte. Anderes war ihnen in den Nischen nicht vorgekommen. Aber im offenen Feld kam Anderes vor; nicht als bedeutungslos, sondern als fraglich - weil nun das Ganze fraglich war. Das war eine ganz neue Bedeutung. Die Welt ist entstanden aus dem Verlust der sich-selbst-bedeutenden Umwelt: als ein Raum, in den ich fragend blicke.

Und in dem ich mir schließlich selber fraglich werde. Denn wer fragt, muß endlich antworten - und sich verantworten: Warum so und nicht anders? Mit welchem Recht? "Welches ist also die Ursache, die seinen Willen bestimmt? Es ist seine Urteilskraft. Die bestimmende Ursache liegt in ihm selbst."22 Schlichte Worte, aber sie begründeten die kopernikanische Wende der Vernunft: Das Herzstück von Rousseaus "Émile" ist das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Dort hat Kant das Ich als Angelpunkt der kritischen Philosophie gefunden.23 Eins ist mit Sicherheit wahr: So wahr ich urteile, urteile ich. Wenn überhaupt etwas gewiß ist, ist es das; und wenn nicht dies, dann gar nichts, und ich muß verstummen. Das und nichts anderes bedeutet Freiheit in transzendentalem Verständnis. Und das transzendentale Ich ist bei Kant jene Instanz, die die mannigfaltigen sinnlichen Eindrücke aufeinander bezieht und zu einer ‚Erfahrung’ zusammenfaßt. Vom ihm wissen wir nur, weil - und daß - dieser Akt des Zusammenfassens tatsächlich geschieht; weil und indem wir tatsächlich Erfahrungen machen - und tatsächlich urteilen. Eine ‚Substanz’ des Ich, die ja nur die "Seele" der Theologen sein könnte, schließt Kant dagegen aus der theoretischen Erörterung ganz aus: weil sie jenseits möglicher Erfahrung liegt;24 auch jenseits der Erfahrungen der Hirnphysiologie, wie wir eben hören und schon vorher wußten.

"Kein materielles Wesen ist durch sich selbst tätig; ich aber bin es. Man kann es mir bestreiten: ich fühle es, und dieses Gefühl, das zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, die es bestreitet."25 Das transzendentale Ich als erkenntnislogisches Konstrukt und das Ich als praktisch-ästhetische Idee, als Bild, das mir als meine Bestimmung vorschwebt, sind von der empirischen Person und ihrer Nerventätigkeit gleich weit entfernt. Sie bezeichnen beide etwas, das an der Ichheit notwendig, und nicht das, was daran zufällig ist. Mit dem empirischen Selbst haben sie dies gemein: Sie teilen ihm einen Sinn mit; teils, wo es herkommt, teils, wo es hinsoll. 

Nun ist es der Hirnforschung gelungen, mittels ihrer modernen bildgebenden Verfahren zu zeigen, über welche Kanäle derlei Bedeutungen entstehen. Sollten sie uns eines Tages zeigen können, wo und wie die elektrochemischen Reaktionen im menschlichen Gehirn "in Bedeutungen umschlagen"; wenn sie uns zusehen lassen, "wie Bedeutung entsteht" und uns gar die Bedeutungen selber sichtbar machen; wenn sie uns also zeigen, wie sie mit ihren ‚Ursachen’ bis ins Reich der Bedeutungen hinein ‚wirken’ können - dann dürfen sie sich bei uns andern beklagen, daß wir ihnen keinen Ort zeigen können, wo ein Ich sitzt. Bis dahin sollen sie sich mit dem Hinweis zufrieden geben, daß sie sich mit ihrer methodischen Option für Ur-sache und Wirkung den Zugang zu diesen Dingen von vornherein abgeschnitten hatten. Und bis dahin behält Lichtenberg recht. Das Ich und seine Freiheit sind uns sicherer verbürgt als die Notwendigkeit von Ursachen.

Der Beweis? Daß ich diese Frage überhaupt stellen kann.

*) Tractatus 5.63


1) Wolf Singer, "Vom Bild zur Wahrnehmung", in: Ch. Maar, H. Burda (Hg.), Iconic Turn, Köln 2004, S. 75f.
2) vgl. J. Ebmeier, "Vom Grund und Gegenstand der Erziehung; Einleitung zur Kritik der pädagogischen Vernunft" in Leviathan 3/2001; insbes. S. 412-418
3) Wolf Singer, "Vom Gehirn zum Bewußtsein", in: ders., Der Beobachter im Gehirn, Ffm. 2002, S. 75
4) ebd. S. 76
5) gr. axios: wert (adj.)
6) gr. heuriskein: finden; heuristisch: was das Finden erleichtert
7) Spinoza, Die Ethik (lat./dt.), Stuttgart 1977
8) ebd, S. 195ff. [p. II, prop. 35; scholium]
9) Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Ffm. 1984, S. 405
10) David Hume, An enquiry concerning human understanding (1748); dt. Eine Untersuchung ber den menschlichen Verstand, Hamburg 1984
11) Für Spinoza war "deus sive natura" selber Kraft.
12) Nietzsche, Werke (ed. Schlechta), München 1965, Bd. III, S. 501
13) ebd, S. 876
14) Ohne eine erste Ursache gäbe es überhaupt keine Ursachen.
15) Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’, Ffm. 1969, S. 161
16) Georg Henrik v. Wright, Erklären und Verstehen, Ffm. 1974, S. 93
17) zur Unterscheidung von ‚unserer’ und ‚meiner’ Welt siehe: J. Ebmeier, "Die Grenzen der pädagogischen Vernunft" in: PÄD Forum 4/2003, S. 177f.
18) vgl. Helmut Plessner, "Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen" in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 8, Ffm. 1983
19) "Symbolnetz", sagt Ernst Cassirer; in: ders., Versuch über den Menschen, Hbg. 1990, S. 47
20) "Ich sage, daß Dinge mit einander verknüpft sind, wenn ein jedes unter ihnen den Grund in sich enthält, warum das andere neben ihm zugleich ist, oder auf dasselbe folgt..., und solcherart sind die Dinge in der Welt der Zeit nach mit einander verknüpft, weil sie dem Raume nach mit einander verknüpft sind..., da alles in einander gegründet ist": Christian Wolff, ‚Deutsche Metaphysik'’  in: ders., Gesammelte Werke Abt. I, Bd. 2 (1740), Hildesheim 1983; S. 332; 335; 340.
21) Es ist, streng genommen, eine ästhetische Idee; s. J. Ebmeier, "Herbarts Einsicht. Vom ästhetischen Grund der Bildung" in: PÄD Forum 5/2003
22) Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1971, S. 292
23) vgl. Ernst Cassirer, "Kant und Rousseau" in: Rousseau, Kant, Goethe, Hbg. 1991
24) In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nennt Kant das Ich einmal ein ‚Ding an sich’. Aber das ist praktische Philosophie, und er begründet nicht mit dem Ich die Sittlichkeit, sondern leitet, umgekehrt, aus dem Postulat der Sittlichkeit das Ich her. Und wie sonst bleibt offen, ob unter Ding-an-sich eine platonische Idee oder bloß ein Noumenon zu verstehen ist...
25) Rousseau aaO, S. 293


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