Samstag, 25. Juni 2016

Ist die Geschichte der Wissenschaft die wahre Geschichte der Menschheit?

aus nzz.ch, 25.6.2016, 05:30 Uhr

Ist die Naturwissenschaft das «Organ der Kultur»?
Menschheitsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte
Der Physiologe Emil Heinrich Du Bois-Reymond hat im 19. Jahrhundert die Geschichte der Naturwissenschaft als «die eigentliche Geschichte der Menschheit» apostrophiert. Glauben wir das heute noch?

von Uwe Justus Wenzel 

Wissenschaftlich-technische Zivilisation: Von den in Umlauf befindlichen Epochenbezeichnungen für das, was als «unser Zeitalter» empfunden wird, hat diese – sie ist älteren Datums – noch immer nicht ausgedient. Sie beweist im Gegenteil und dank ihrer sachlichen Spannweite auch neben jüngeren Begriffsschöpfungen wie «Computerzeitalter», «Informationszeitalter» oder «Wissensgesellschaft» ihre fortdauernde und sozusagen unaufgeregte Aktualität. Bereits 1886 ist, von dem Erfinder und Industriellen Werner von Siemens, das «naturwissenschaftliche Zeitalter» ausgerufen worden. Damals, so darf vermutet werden, schwang in der Selbstvergewisserung ein Stolz mit, der unterdessen eher gemischten Gefühlen gewichen ist.

Emil Du Bois-Reymond

Die prägende Kraft der Naturwissenschaften, ihre «Kulturbedeutsamkeit», akzentuierte auf seine Weise auch Emil Heinrich Du Bois-Reymond. Der deutsche Physiologe und Mediziner, der seine eigene Gegenwart als «technisch-induktives Zeitalter» etikettierte, wird zwar heute meist mit seiner berühmten «Ignorabimus»-Rede von 1872 zitiert, in der sich – in feierlichem Ton – eine Selbstbescheidung der Wissenschaft in Anbetracht des «unbegreiflichen» menschlichen Geistes artikuliert: «Ignoramus et ignorabimus – wir wissen es nicht und werden es nicht wissen.»

Doch Du Bois-Reymond hat fünf Jahre später, wiederum in einer populärwissenschaftlich angelegten Rede, die Naturwissenschaft «das absolute Organ der Kultur» genannt und «die Geschichte der Naturwissenschaft» als «die eigentliche Geschichte der Menschheit» apostrophiert. «Eigentlich» darum, weil Staatenbildung und Kriegführung, deren «unerspriesslich einförmigen Wellenschlag» die «bürgerliche Geschichte» spiegele, noch Vorbilder in der «wirbellosen Tierwelt» hätten – wohingegen die Kulturgeschichte (in heutigem gängigem Idiom formuliert) das Alleinstellungsmerkmal der Gattung Mensch sei. Und das Wesentliche der Kultur war für den selbstbewussten Naturwissenschafter eben die fortschreitende wissenschaftliche Erforschung der Natur, die er in jener Rede – seinerseits nun auch nicht ganz unmilitärisch – als «geistigen Eroberungszug» charakterisierte.



Gesetzt, die Geschichte der Naturwissenschaft wäre tatsächlich die «eigentliche» Geschichte, ist dann die Wissenschaftsgeschichte die «eigentliche» Geschichtsschreibung? – Diese Frage darf vielleicht auch deswegen unbeantwortet bleiben, weil nicht wenige Bestrebungen zumindest der neueren Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsforschung darauf zielen, weitgehende, mithin «absolute» Ansprüche der Naturwissenschaften zu relativieren oder doch zumindest in ihren historischen Kontexten zu situieren. Unlängst stand im Potsdamer Einstein-Forum – apropos «geistige Eroberungszüge» – der «Imperialismus der Naturwissenschaften» zur Debatte. (Der Tagungstitel «Fetishizing Science» markierte recht eigentlich einen zweiten thematischen Fokus.)

Vor bald einem Vierteljahrhundert aus der Taufe gehoben, versteht sich die Einrichtung als dialogisches und interdisziplinäres «Laboratorium des Geistes»; von Anfang an sind die «hard sciences» im kulturwissenschaftlich kritischen Blick gewesen, bereits in den ersten Jahren widmete man sich etwa der «Krise der Objektivität in den Wissenschaften». Als Ausfluss eines «Imperialismus», so konnte der Problemexposition im Tagungsprogramm entnommen werden, erachten die Veranstalter nicht zuletzt auch die Selbstverständlichkeit, mit der seit dem frühen 20. Jahrhundert weithin den Naturwissenschaften – in puncto Wissenschaftlichkeit, Wahrheitssuche, mutmasslicher Ideologiefreiheit – der Vorzug vor den Geisteswissenschaften gegeben worden ist.

Ein «Narrativ»

Die «eigentliche Geschichte der Menschheit», die nach Du Bois-Reymond die Naturwissenschaften schreiben, muss freilich auch tatsächlich geschrieben, sie muss erzählt werden. Solche Erzählungen spielen bei dem kulturbildenden Eroberungszug der Naturwissenschaften eine kaum zu überschätzende Rolle. Dazu hat in Potsdam, ohne das Problem von Du Bois-Reymond her aufzuzäumen, Lorraine Daston interessante Überlegungen beigesteuert. Die Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte warf einige Schlaglichter auf ein geläufiges «Narrativ» – auf eine Erzählung, die Naturwissenschaft und Modernität miteinander verknüpft.

Die beiden Hauptelemente der Story: Die Wissenschaft (gemeint ist stets die Naturwissenschaft) wurde im 17. Jahrhundert – Stichwort: scientific revolution – «modern»; die Modernisierung der Welt wurde sodann durch die revolutionierte Naturwissenschaft motorisiert, und zwar dergestalt, dass die Wissenschaft eine «moderne Mentalität» hervorbrachte, die Aufklärung und Fortschritt ermöglichte – und die, ein schöner Nebeneffekt, den Westen vorteilhaft vom Rest der Welt abhob. Als Geschichtenerzähler betätigten sich laut Daston weniger Naturwissenschafter als vielmehr Philosophen und Historiker: insbesondere Alexandre Koyré, Herbert Butterfield und Alfred North Whitehead, deren einschlägige Bücher seit etlichen Jahrzehnten in immer neuen Auflagen gedruckt werden.

Gegenerzählung

Für den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung interessierte sich Daston nicht eigens, obgleich sie andernorts (in der gemeinsam mit Katharine Park verfassten Einleitung zum dritten Band der «Cambridge History of Science») die Rede von einer wissenschaftlichen Revolution, die im 17. und 18. Jahrhundert stattgefunden habe, rundweg als «Mythos» taxiert und auf das 19. Jahrhundert als wahre Geburtsstunde der institutionalisierten, der Wissenschaft im heutigen Sinne hingewiesen hat. Allerdings wird der mutmassliche Mythos von der wissenschaftlichen Revolution nicht nur als Erfolgsstory von Aufklärung und Fortschritt erzählt. Daston stellte in Potsdam der «triumphalistischen» Version der Geschichte – gewissermassen als deren nicht eineiige Zwillingsschwester – eine «tragische Version» zur Seite. Diese Version habe mit Max Weber, Georg Simmel, aber auch Henri Bergson ihre ersten prominenten philosophisch-soziologischen Erzähler gehabt und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ihre erste grosse Konjunktur erlebt.

Von kalter Rationalität, von einer Abstraktion, die «echte» Erfahrung verunmögliche, von der allgemeinen Entzauberung der Welt weiss diese «andere» Geschichte der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zu berichten. Das – die Bilanzierung der Verluste des Zivilisationsprozesses – unterscheidet sie von ihrer Zwillingsschwester. Was sie mit ihrer Schwester indes verbindet, ist dies, dass sie eine Transformation der Welt durch Wissenschaft als gegeben und als irreversibel voraussetzt. Solche «Narrative», so liess Daston durchblicken, seien nicht falsifizierbar. Sie verlören ihre identitätsstiftende Kraft erst, wenn sie von einer anderen einnehmenden Erzählung ersetzt würden.

Einmal angenommen – ganz möchte man es zwar nicht glauben –, die Frage nach dem Wahrheitsgehalt solcher Menschheitsgeschichten sei tatsächlich zu vernachlässigen: Kommt die Wissenschaftsgeschichte als kulturprägende Erzählerin einer neuen Story in Betracht? Wer weiss. Sie dürfte dann aber wohl nicht nur Geschichten vom Geschichtenerzählen erzählen.


Nota. - Der Siegeszug der Wissenschaften im 17. Jahrhundert sei "das politische Ereignis par excellence" gewesen, schrieb ich andernorts, er hat im Reich der Parteienkämpfe ein - kontinuierlich wachsendes - Feld geschaffen, wo nicht länger der Stärkere entscheidet, sondern der geprüfte Grund

Wenn auch faktisch die Physik die treibende Kraft war, betraf diese 'Wissenschaftliche Revolution' nicht bloß die Naturwissenschaften im Besondern, sondern die Geisteshaltung einer ganzen Zivilisation: Als rational gilt seither nur noch solche Erkenntnis, die eine Erscheinung als Wirkung einer Ursache darstellen kann; und zwar ein geschichtliches Ereignis nicht minder als ein Laborexperiment. Auch politische Probleme sollten seither, so weit irgend möglich, durch Vernunft lösbar sein, ohne Waffen. (Der Aufstieg der Wissenschaften begann nach dem Ende des 30jährigen Kriegs und der englischen Revolution - in der Hoffnung auf ewigen Frieden, nachdem die Religion Ewige Zwietracht gesät hatte.) 

Allerdings beschränkte er sich auf den (seither stets wachsenden) engen Kreis der Gelehrten.

Dass es sich im Besondern um Naturgesetze handeln sollte, wurde erst im Lauf des 19. Jahrhunderts deutlich, als die Siege der Exakten Wissenschaften in Gestalt der technisch-industriellen Revolution auch den Durchschnittsmenschen anzugehen begannen. Dass es für alles einen hinreichend Grund geben müsse, scheidet seither den gesunden Menschenverstand von allen Arten des Irrsinns. (Und seither gewinnen die 'Geisteswissenschaften' ihr eigenes Profil, weil sich sich gegen die 'harten' Fächer legitimieren müssen.) 

Doch das Dogma der Kausalität ist inzwischen zu einem - pragmatisch vertretbaren - Aberglauben des Gesunden Menschenverstands herabgesunken; es begann mit den Revolutionen der Thermodynamik und hat mit der Quantenphysik einen einstweilen Höhe-, aber längst keinen Schlusspunkt gefunden. 

Dass die exakten alias 'Natur'-Wissenschaften an ihren Grundlagen zu zweifeln beginnen, ist löblich, aber auch das mindeste, was man erwarten darf. Nun wenden sie sich in neuer Bescheidenheit an die 'weiche' Philosophie zurück. Wobei sie viel Zeit sparen können, wenn sie sich erinnern, dass die Philosophie ihnen schon vor zweihundert Jahren in Bescheidenheit vorangegangen ist und sich mit Kants Kopernikanischer Wende selber die Schranken gezogen hat, die sie von den Realwissenschaften trennen - und die Realwissen-schaften von ihr! Erkenntnisfortschritt können beide nur erhoffen, wenn sie die Schranken klug beachten und nicht wieder alles miteinander verrühren. Wenn ihr Interesse eben der Andersheit des andern gilt und sie Konsens und Gemeinsamkeit den profanen Alltagsmenschen überlassen.
JE

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