Samstag, 9. April 2016

Die Philosophie der Aufklärung.

aus nzz.ch, 9.4.2016, 05:30 Uhr

Philosophie im 18. Jahrhundert
In einem Doppelband des «Grundrisses der Geschichte der Philosophie» wird die Geistesbewegung der Aufklärung in Mittel-, Nord- und Osteuropa in einem eindrucksvollen Panorama vor Augen geführt.

von Ulrich Kronauer

Im Schwabe-Verlag in Basel erscheint, in solides Leinen gewandet, das philosophiehistorische Standardwerk in deutscher Sprache, der «Grundriss der Geschichte der Philosophie». Es knüpft schon mit dem Titel an die Tradition des im 19. Jahrhundert von Friedrich Ueberweg realisierten Projekts einer Darstellung der gesamten Philosophiegeschichte an. Von dem neuen, von Helmut Holzhey herausgegebenen «Grundriss», der auf vierzig Bände angelegt ist und der damit alle bisherigen Auflagen und Bearbeitungen des «Ueberweg» an Umfang weit übertrifft, ist mehr als ein Viertel erschienen. Der Philosophie des 18. Jahrhunderts ist eine eigene Abteilung gewidmet, die fünf Bände umfasst und inzwischen vollständig vorliegt.

Vernunft und Toleranz

Helmut Holzhey und Vilem Mudroch haben den fünften Band dieser Abteilung herausgegeben, der aus zwei umfangreichen Halbbänden besteht und in dem die Philosophie in Mittel-, Nord- und Osteuropa behandelt wird oder, genauer, in dem noch bis 1806 formell bestehenden Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in der Schweiz, in Skandinavien, Polen, dem Königreich Ungarn und Russland.

Die philosophiegeschichtliche Darstellung des fünften Bandes steht, wie die beiden Herausgeber im Vorwort schreiben, «insgesamt im Zeichen der Aufklärung». Gerade in allerjüngster Zeit wurde der Aufklärung mit ihren Leitbegriffen – Vernunft, Fortschritt, Toleranz, Gleichheit, Menschenwürde, Glaubensfreiheit – in der Presse und in politischen Statements eine besondere Aktualität zugesprochen. Es gelte, so heisst es, die Werte der Aufklärung in Erinnerung zu rufen und das Erbe dieser Geistesbewegung zu bewahren. Die Orientierung an einer Epoche, die nun schon über zweihundert Jahre zurückliegt, ist allerdings nicht ganz unproblematisch und nicht ohne historisch reflektiertes Bewusstsein möglich, zumal sich die Mentalitäten und die sozialen Normen stark gewandelt haben. So galten die heute beschworenen Werte etwa der Gleichheit und der Menschenwürde damals nicht für alle Menschen; und selbst Vertreter der Aufklärung, der grosse Immanuel Kant nicht ausgenommen, zeigten Verständnis dafür, dass die Frauen nicht gleichberechtigt waren oder dass Minderheiten wie die Juden und die sogenannten Zigeuner diskriminiert wurden. Auch gab es gravierende Unterschiede zwischen einzelnen Ländern, etwa zwischen Frankreich und Deutschland, in der Radikalität der Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und den Machtansprüchen der Kirche.

Die Menschen lebten, wie Kant 1784 feststellte, insgesamt noch keineswegs in einem aufgeklärten Zeitalter, sondern nur erst in einem Zeitalter der Aufklärung. Kant beschreibt Aufklärung – den «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» – als unabgeschlossenen Prozess. Die Hauptziele dieser gesamteuropäischen Bewegung sind auch heute noch nicht erreicht und insofern durchaus «aktuell». Ihnen lassen sich die Programmideen der als gemässigt geltenden deutschen Aufklärung zuordnen, die in dem umfangreicheren ersten Teil des Doppelbandes behandelt werden. Helmut Holzhey nennt als entsprechende Ziele «die Ablösung von Lehren und Ordnungen geistlicher und weltlicher Art», die einer kritischen Prüfung durch die autonome menschliche Vernunft nicht standhalten, sowie «die Gewährleistung einer nicht konfessionell-dogmatisch gebundenen Religionsausübung und die Errichtung einer natur- bzw. vernunftrechtlich fundierten politischen Ordnung». Die deutsche Aufklärung sei insbesondere durch die philosophische Methode des Eklektizismus (oder auch: der Eklektik) charakterisiert und damit auch durch die Abwendung von autoritätsgebundenem Wissen, durch das Streben nach Vorurteilsfreiheit und geistiger Unabhängigkeit sowie die Leitvorstellung der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen. Unter der Annahme einer alle Menschen verbindenden Vernunft sei der Kampf gegen Aberglauben und Schwärmerei geführt, seien die Sinnlichkeit und die Erfahrung aufgewertet worden.

Der gute Überblick über die deutsche Aufklärung setzt mit den Hauptvertretern der eklektischen Philosophie des Christian Thomasius ein, es folgt die Philosophie Christian Wolffs und seiner Schüler, deren Einfluss nicht unterschätzt werden sollte. Grossen Raum nehmen naturgemäss Kant und der Kantianismus ein. Ein weit gefasster Philosophiebegriff erlaubt es, das ganze kulturgeschichtliche Spektrum des Geisteslebens aufzufächern. In eigenen Kapiteln werden die Institutionen der Universitäten und Akademien behandelt, die Städte Berlin und Göttingen als Zentren des intellektuellen Geschehens, sodann die Theologie und die Religionskritik, der Pietismus und der Pantheismusstreit, die jüdische Aufklärung, die Popularphilosophie und die Volksaufklärung. Umfangreiche Kapitel sind auch dem Naturrecht sowie Staat und Politik vor der Französischen Revolution gewidmet, dem Menschenbild in Physiologie, Anthropologie, Pädagogik und Geschichtsschreibung, den Naturwissenschaften, Gesellschaft, Staat und Ökonomie am Ende des Jahrhunderts, schliesslich den Theorien der Künste und der Philosophie der Dichter, der Literatur- und Philosophiegeschichtsschreibung sowie den Anfängen des spekulativen Idealismus.

Nicht nur die grossen Köpfe

Der zweite Teil gibt einen Überblick über die Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts in der Schweiz, in Nord- und Osteuropa. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf den Einflüssen der europäischen Aufklärung. Dabei hätte auch noch die Forschung zu den baltischen Ländern berücksichtigt werden können, in denen die Ideen der Aufklärung noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wirksam waren.

An dem Werk haben viele ausgewiesene Fachleute mitgearbeitet; das Niveau der Beiträge ist hoch, zuverlässig sind die Verzeichnisse der Primär- und Sekundärliteratur, informativ und gut lesbar die zum Teil ausführlichen Darstellungen von Leben und Lehre eines Autors. Als sehr nützlich erweisen sich die Einblicke, die jeweils in einzelne wichtige Werke eines Philosophen eröffnet werden. Neben den bis heute ausstrahlenden Köpfen wie Wolff und Kant, Hamann und Herder oder Mendelssohn wird eine Vielzahl von Denkern vorgestellt, deren Namen und Wirken weitgehend in Vergessenheit geraten sind, die aber Wesentliches zum Diskurs der Aufklärung beigetragen haben.

Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Band 5/1 und 5/2. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. Herausgegeben von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch. Schwabe-Verlag, Basel 2015. 1677 S., leinengebunden, Fr. 320.–.

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