Sonntag, 31. Januar 2016

Haben wir uns die Menschwerdung erschlafen?

aus Die Presse, Wien, 31. 1. 2016

Wir, Meister des Schlafs?
Eine Hypothese will erklären, wie der Mensch Mensch geworden ist: durch die Kürze und Intensität seiner Nachtruhe. Aber das ist eher Spekulation.

von Jürgen Langenbach

Der entscheidende Schritt in der Geschichte der Menschheit war der von den Bäumen herab, auf Dauer, auch in der Nacht, dann sind unsere nächsten Verwandten meist hoch oben. Dieser Schritt sorgte für ein großes Gehirn und eine geschickte Hand – und im Zusammenspiel beider eine höhere Kultur –, er brachte all das, was uns eigen ist. Unternommen hat ihn vor etwa 1,8 Mio. Jahren Homo erectus; der noch frühere Australopithecus nur war gelegentlich unten, sein Körperbau zeigt es.

Aber wie kam H. erectus dazu, und was war das Entscheidende an diesem Schritt? Wo die Unterschiede zwischen uns und unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, herrühren, ist unklar, in den Genen haben sich nur zwei Kandidaten gefunden, beide helfen beim Sprechen, einer im Gehirn (Foxp2) und einer, der unsere Kiefer von Muskelwülsten befreit hat. Das ist schon fast alles, der Rest der Differenz liegt im Dunkeln. Und just von dort soll sie kommen, die Differenz, aus dem Dunkel, das ist die jüngste Idee zur Menschwerdung des Affen, sie stammt von David Samson und Charles Nunn (Duke) und heißt Sleep Intensity Hypothesis: Ihr zufolge hat der Mensch sich selbst erschlafen, indem er sich auf die Erde bettete und weniger, aber besser genutzte Zeit mit Ruhen verbrachte als alle anderen Primaten. Das konnte er, weil er seinem Schlaf eine Architektur gab, die die Intelligenz keimen ließ (Evolutionary Anthropology 24,S. 225).

Gemach! Nichts liegt so im Dunkeln wie der Zustand, in dem wir ein Drittel unseres Lebens verbringen: „Um das Wesen des tiefen dunkeln Schlafs weiß man nichts in Ost und West“, bedauerte der japanische Mönch Mubaisai Ekirin 1597 in seiner „Haushaltsenzyklopädie“. Und Mitte des 20. Jahrhunderts setzte Allan Rechtschaffen, einer der führenden Schlafforscher, fort: „Wenn Schlaf nicht eine absolut lebenswichtige Funktion erfüllt, dann ist er der größte Fehler, den die Evolution je gemacht hat.“ Lebenswichtig ist er, der Schlaf, so viel weiß man, allerdings nur ex negativo: Ratten sterben an seinem Entzug rascher als an dem von Nahrung, auch Menschen brechen darunter rasch zusammen, Folterer aller Zeiten wussten und wissen es, und man selbst fühlt sich nach einer Nacht ohne rechten Schlaf „wie gerädert“.

Warum? Das weiß man nicht, man weiß nicht einmal, was Schlaf ist, es gibt nur eine vage Definition, sie kreist um die Ruhe. Aber es ruht fast nichts, Herz und Lunge pumpen – gottlob –, nur die Skelettmuskulatur ist erschlafft – auch gottlob, man würde im Bett herumspringen und sich und andere gefährden –, und die Sinne haben die Aufmerksamkeit gedämpft. Im Gegenzug wird ein Organ höchst aufgeregt, das Zentralorgan: 1953 beobachtete Eugene Aserinsky Menschen beim Schlafen und sah heftiges Augenrollen in Phasen, in denen das Gehirn ähnlich aktiv wie im Wachzustand ist, man nannte das den paradoxen Schlaf, bekannter als REM (Rapid Eye Movement).

Hirnmüllabfuhr. 

Heute ist das Bild komplexer, viele Phasen wechseln einander ab, aber wozu? Über die alte Lebensweisheit, man möge wichtige Entscheidungen überschlafen, ist man kaum hinaus: Irgendwie lernt man im Schlaf – ob nur in REM oder auch sonst, ist umstritten –, man geht den Tag noch einmal durch, verfestigt Wichtiges, entsorgt Unwichtiges. Und zwar nicht nur metaphorischen Müll, das ist einer der raren Funde der Schlafforschung: Das Gehirn hat ein Entsorgungssystem für überflüssige bis gefährliche Stoffwechselprodukte, aktiv ist es im Schlaf, Maiken Nedergaard (Rochester) hat das 2013 bemerkt (Science 342, S. 372).

Das gilt wohl nicht nur für uns: Viele Tiere schlafen, ob alle, ist wieder unklar, und von jenen, die schlafen, tun es nicht alle gleich: Manche halten immer ein Auge offen und die zugehörige Hirnhälfte wach. Man kannte diesen unihemisphärischen Schlaf schon von Delfinen und Enten, nun hat ihn John Lesku (Melbourne) auch bei Krokodilen bemerkt. Er vermutet, dass dieser Schlaf die Norm ist, und der uns Vertrautere, der der Säugetiere, die Ausnahme (Journal of Experimental Biology 218, S. 3175).

Aber auch der der Säugetiere ist uns nicht wirklich vertraut, das beginnt bei der Dauer: Winzige Fledermäuse schlafen 20 Stunden am Tag, riesige Giraffen ganze vier, Faultiere 15 bis 20, das sind häufig zitierte Eckdaten, sie haben wenig Belang, sind oft an Tieren in Gefangenschaft erhoben, die sicher und wohl versorgt sind: In der Natur schlafen Faultiere nur 9,6 Stunden, man bemerkte es spät. Noch weniger weiß man über die Qualität des Schlafs, seine Architektur; für die Details braucht man EEGs.

Immerhin, Samson hat sieben Monate lang seine Nächte zu Tagen gemacht und den Schlaf von Orang-Utans im Zoo von Indianapolis protokolliert: Sie schlafen etwas länger als wir, verbringen aber nur zwölf Prozent der Zeit in REM, bei uns sind es 22, es folgen Makaken mit etwas über und Schimpansen mit etwas unter 20.

Das ist das Fundament, auf ihm türmen Samson/Nunn ein luftiges Gerüst: Warum schlafen Menschen nicht mehr oben? Es liege an ihrer Körpergröße, sie habe die Gefahr des Herabfallens erhöht! Aber Orang-Utans sind auch nicht schmal, sie schlafen immer oben. Andere hingegen halten es wie wir, manche Schimpansen bleiben unten, Kathelijne Koop (Cambridge) bemerkte es (American Journal of Physical Anthropology 148, S. 351). Aber wir sind doch die Meister des REM!? Unter Primaten vielleicht, sonst bei Weitem nicht, das Schnabeltier weist über 50 Prozent REM auf, sonderlich klug ist es davon nicht geworden, merkt Schlafforscher Jerome Siegel (UC Los Angeles) in den „New York Times“ zu Samson/Nunn an.

Kommt hinzu, dass der Entschluss zum Hinabsteigen vor der Tat fallen musste: also oben. Kommt noch hinzu, zentral, dass es den Schlaf des Menschen nicht gibt: Nur wir schlafen acht Stunden am Stück, auch das nur im mittleren Alter, Spanier teilen den Schlaf in zwei Phasen – Siesta –, Japaner in viele, Nickerchen am Tag, wo und wann immer möglich. Leonardo da Vinci versuchte noch eine Variante – alle vier Stunden eine Viertelstunde –, ihm folgte keiner. Wie auch immer: Die Hypothese hat Charme, aber um das Wesen des tiefen dunklen Schlafs weiß man so wenig in Ost und West, dass man sie am besten überschläft, in aller Ruhe.







Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

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