Montag, 4. Januar 2016

An der Grenze der Wissenschaftlichkeit: Biomedizin.

Symbolbild.











aus Die Presse, Wien, 5. 1. 2016

Wer hütet den Hort der Intransparenz? Die Biomedizin!
Ausgerechnet auf dem Feld, auf dem es um Leben und Tod geht – und um enorm viel Geld –, zeigen sich so frappante wie enorme Defizite der Forschungspraxis, sowohl bei Tierversuchen wie auch ganz generell. Das Journal „PLos Biology“ reagiert mit Erforschung der Forschung.

Von Jürgen Langenbach

Wenn etwas für Faktentreue, Transparenz und Nachvollziehbarkeit steht, dann ist das die Naturwissenschaft mit ihren Experimenten. Da liegt alles klar zutage, da spielen keine persönlichen Eigenheiten oder gar Interessen hinein – zum Beleg lässt man in manchen Labors noch das Individuum in weißen Kitteln verschwinden –, da wird jeder Schritt säuberlichst dokumentiert und der interessierten Öffentlichkeit oder zumindest den Fachkollegen zugänglich gemacht.

So weit das Bild, mit der Realität hat es wenig zu tun: Im Extrem werden Daten schlicht „fabriziert“, gern auch Fotos. Das sind dann die großen Betrugsfälle: Karl Illmensee erfand in den Achtzigern geklonte Mäuse, Jan Hendrik Schön ersann in den Neunzigern reihenweise Mirakel der Physik, der Südkoreaner Hwang übermittelte 2004 der Welt die Sensation, ihm seien embryonale Stammzellen des Menschen gelungen.


All das fiel irgendwann doch auf, die Korrekturkraft ist groß in den Naturwissenschaften. Aber die Verführungen und Zwänge sind es auch: 2005 fragte Nature die Biomediziner unter seinen Lesern, ob sie schon wissenschaftliches Fehlverhalten („miscoduct“) begangen haben, unter diesem Begriff wurden „Fabrizieren, Fälschen und Plagiieren“ zusammengefasst: 7,4 Prozent bekannten Plagiate, 5,3 Prozent hatten Unpassendes aus Publikationen gestrichen oder die Publikation gleich ganz unterlassen, 0,5 Prozent hatten etwas fabriziert (435, S. 737).
„Where have all the rodents gone?“

Das alles kam unter dem Druck des „publish or perish“ – „veröffentliche oder verrecke“ –, all das geschah aber auch unter zu wenig wachen Augen der Kollegen und Journal-Herausgeber. Die sind in der letzten Zeit vorsichtiger geworden, es gibt nun etwa Software zum Aufspüren von Plagiaten. Aber auch die kann nur sehen, was da ist. Und da ist etwa wieder in der Biomedizin bzw. bei ihren Tierversuchen so wenig, dass Ulrich Dirnagl (Charité Berlin) seinen jüngsten Befund nur mit Galgenhumor quittieren kann: „Where have all the rodents gone?“ (PLoS Biology 4. 1.). So betitelt Dirnagl eine Analyse von 100 Publikationen mit 521 Experimenten zu Hirnschlag und Krebs, durchgeführt an Mäusen. Oft werden sie in Paaren zu je acht getestet, die einen erhalten den Wirkstoff, die anderen dienen der Kontrolle.

Bei klinischen Tests an Menschen ist es im Grunde genauso, und dort ist es ganz selbstverständlich, dass die Zahl der Versuchsteilnehmer dokumentiert wird, bis zum Ende, es können Probanden ausfallen, im schlimmsten Fall durch Exitus. Bei Versuchsmäusen ist das alles andere als selbstverständlich: In zwei Drittel der von Dirnagl gesichteten Studien ist unklar, wie viele Tiere im Lauf des Experiments ausfielen/ausgeschieden wurden. Und schon der Ausfall eines einzigen Tiers kann das Ergebnis beeinflussen, zu falschen positiven Befunden führen.
Dirnagl rechnet es ausführlich vor und schließt, dass in Publikationen ohne ausgewiesene Tierzahlen „die Effekte (getesteter Substanzen) vermutlich überschätzt werden“. – Was Dirnagl im Einzelfall demonstriert, dem geht Johan Ioannidis (Stanford) seit Jahren systematisch nach. Er äußerte schon den Verdacht, dass die Mehrzahl der Befunde der Wissenschaften falsch ist (PLoS Medicine e124), er hat nun 441 biomedizinische Fachartikel von 2000 bis 2014 daraufhin angesehen, wie es um Transparenz und Reproduzierbarkeit bestellt ist: Nicht eine Publikation lieferte alle Daten, eine einzige hatte ein vollständiges Protokoll des Experiments.
Immerhin: Verbessert hat sich die Auskunft über mögliche Interessenkonflikte. Hinweise darauf – auf Geld der Pharmaindustrie etwa – sind häufiger geworden, finden sich aber just bei Beiträgen zur klinischen Medizin nur halb so oft wie andernorts.
Auch das steht in PLoS Biology, und die Herausgeber ergänzen in einem Editorial, dass es nicht nur um Moral geht – eine Schätzung beziffert den Schaden schleißiger Praxis in der Biomedizin auf 85 Prozent des investierten Geldes: 200 Milliarden Dollar weltweit pro anno – und führen ein neues Forschungsfeld ein, das den anderen auf die Finger bzw. Daten sieht: „Meta-Research“.

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