Dienstag, 29. September 2015

Und es gibt ihn doch noch.


Grad dieser Tage hat Manfred Frank in der Frankfurter Allgemeinen einen großen Aufsatz über den Niedergang der philosophischen Lehre in Deutschland veröffentlicht. "Ein Gespenst geht um an Deutschlands philosophischen Seminaren: das Gespenst eines Weltsiegs der analytischen Philosophie und eines Massenexodus der geschlagenen kontinentalen Philosophie", heißt es da gleich eingangs. "Wer kontinentale Philosophie studieren will, sollte nach China oder Brasilien gehen. In Deutschland liegt das Erbe des deutschen Idealismus am Boden. Seine gedankliche Wucht versandet im Kleinteiligen." Kontinentale Philosophie, müssen Sie wissen, heißt in Amerika alles, was im Abendland - von Thales bis Husserl - vor Wittgenstein gedacht wurde. Allenthalben setzt sich die sogenannte angelsächsische, in Wahrheit amerikanische "Analytische Philosophie" fest, durch die man durch Worte zu Worten gelangt.

"Ja, es begann in jüngerer Zeit eine neue Scholastik, eher: ein neuer Wolffianismus an Deutschlands Philosophischen Seminaren. So nannte man die Philosophie, die im achtzehnten Jahrhundert im Anschluss an Christian Wolff aus Leibnizens genialen Aperçus eine zusammenhängende, eine systematische 'Schulphilosophie' - eben eine Scholastik - zu errichten versuchte und flächendeckend die deutschen Universitäten beherrschte. Schon damals gab es eine allgemein anerkannte Terminologie, man stritt sich um Tüttelchen von Wortdefinitionen, man spaltete die dünnsten Begriffshärchen; aber man war sich einig im Dissens, weil man die gleichen Verfahren und dieselben Definitionen benutzte. 

Vielfach tönt die Klage, dass es so wieder an vielen unserer philoso-phischen Seminare aussieht. Der scholastische Trend wird durch die Uniformierung und Verschulung der Studiengänge nach Bologna fast alternativlos. Statt großer Themen, statt Forschungen mit großem Atem ist eine Mikrologie von Argumentanalysen um ihrer selbst willen in die philosophischen Debatten eingezogen, die das Interesse gerade auch der anschlussfähig geglaubten Naturwissenschaftler verspielt, die Philosophie isoliert und das Gros der Studenten abschreckt oder ins Ausland vertreibt."


Christian Wolff - das war der Mann, dessen pedantisches Definitionssystem vor Kants koperni-kanischer Wende überall das Denken beherrscht hatte, auch das von Kant. Und sowas soll nun wieder unsere Universitäten einschläfern?

Doch passend dazu bringt die heutige NZZ einen Bericht von Uwe Justus Wenzel:


aus nzz.ch, 19. 9. 2015

Internationaler Kant-Kongress in Wien
Das Gehirn und die Schraubenwindungen 
Immanuel Kant (1724 bis 1804) ist unser ältester philosophischer Zeitgenosse. Die Unerschöpflichkeit seines Denkens dokumentierte der Internationale Kant-Kongress in Wien.

von Uwe Justus Wenzel

«Der unwiderstehliche Drang zum Philosophieren ist wie der Brechreiz bei Migräne, der etwas auswürgen will, wo nichts ist.» – Der unfreundliche Satz stammt von dem Physiker und Mathematiker Ludwig Boltzmann und ziert eine der vielen Schautafeln, die derzeit in einer Ausstellung in der Universität Wien zu sehen sind. Die geistesgeschichtliche Exposition ist dem Wiener Kreis gewidmet, einer in den zwanziger und frühen dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Blüte gekommenen Denkschule des «logischen Empirismus», zu deren Ahnen Boltzmann für gewöhnlich gezählt wird. Deren Mitglieder waren, was das Philosophieren angeht, vielleicht nicht ganz so rigoros wie ihr Vorfahr, aber sie wollten doch (mit einem Körnchen Salz) aus der Philosophie ein wissenschaftliches Unternehmen machen, das Kopfschmerzen nicht verursacht, sondern heilt. Wie es so kommt, hat jedoch der vergebliche Versuch (namentlich Rudolf Carnaps), in der Welt der Sprache einen undurchlässigen Zaun zwischen dem Reich sinnvoller und dem Reich sinnloser Sätze zu errichten, zu erneutem und nicht geringem Kopfzerbrechen – und zu Kopfschütteln – geführt.

Die Vernunft belästigt sich

Immanuel Kant, zu dem zwar einige Verbindungslinien vom Wiener Kreis zurückführen, wusste es anderthalb Jahrhunderte früher besser. Unser ältester philosophischer Zeitgenosse, in dessen Namen in der vergangenen Woche in der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis etwa sechshundert Philosophinnen und Philosophen aus über vierzig Ländern zum 12. Internationalen Kant-Kongress zusammenkamen, eröffnet sein erstes Hauptwerk, die «Kritik der reinen Vernunft» (1781), mit einem unvergesslichen Diktum über das «besondere Schicksal» der menschlichen Vernunft: Sie werde «durch Fragen belästigt [. . .], die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben; die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.» Anders gesagt: Metaphysik ist ein unvermeidliches Bedürfnis, das sich nicht befriedigen, aber auch nicht austilgen lässt.

Das zu wissen, ist selbstredend auch kein Rezept gegen Kopfschmerzen, wie ein anderes Zitat auf einer anderen Tafel einer anderen Ausstellung in der Wiener Universität dokumentieren mag. Die Schau, im Foyer der Universitätsbibliothek aus Anlass des Kongresses eingerichtet, ist nicht ganz so ansehnlich wie diejenige zum Wiener Kreis: «Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa». (Dafür aber ist ihr ein zweibändiges «Lesebuch» von beträchtlichem Umfang zur Seite gestellt.) Das Zitat, Robert Musils Roman «Die Verwirrungen des Zöglings Törless» (1906) entnommen, beschreibt, was der Protagonist erlebt, als er ebenjene erste «Kritik» Kants zu lesen versucht: «. . . vor lauter Klammern und Fussnoten verstand er kein Wort, und wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe.» Kant-Forscherinnen und -Forscher sind in aller Regel längst über das Törlesssche Anfangsstadium hinaus: Sie drehen sich, um im Bild zu bleiben, das Gehirn selbst aus dem Kopf. Rahmenthema des «grössten philosophischen Ereignisses in Österreich im Jahre 2015», wie die in leicht ridikülem PR-Ton gehaltene Ankündigung den Fachkongress vorab rühmte, war «Natur und Freiheit» – ein zuverlässiger Klassiker, der in Abständen auch in der öffentlichen Diskussion Widerhall findet; zumeist freilich dann, wenn von weltanschaulich wirken wollenden Naturwissenschaftern angebliche Beweise für die Unfreiheit des menschlichen Willens herumgeboten werden.

Leistungsschau

Die Hirnforschung, die seit gut zehn Jahren – allmählich allerdings abflauenden – Wind macht, spielte in Wien jedoch, soweit ersichtlich, keine grosse Rolle mehr. Auch wenn Kant einst den «Widerstreit» zwischen Natur und Freiheit, Determinismus und Selbstgesetzgebung, als Entzweiung der Vernunft mit sich selbst dramaturgisch höchst effektvoll in Szene gesetzt hat, wurde das Begriffspaar in Wien überwiegend eher im Modus undramatischen Normalbetriebs bearbeitet – eines Modus, der Erkenntnisgewinne keineswegs ausschliesst, ebenso wenig indes Langeweile. Normalität herrschte auch sonst, ausserhalb des Rahmenthemas. Wie bei der alle fünf Jahre an wechselnden Orten stattfindenden Leistungsschau der Kant-Deutung üblich, wurde in den (etwa vierhundertfünfzig) Vorträgen das gesamte – breite – Spektrum des Königsberger Philosophen aufgefächert: von der Erkenntnistheorie bis zur Religionstheorie, von der Naturphilosophie bis zur Ethik, von der Anthropologie bis zur Metaphysik. Ein Ende der Interpretation und der Interpretationsmöglichkeiten ist nicht abzusehen. (Das gilt, beiläufig, für alle zu Recht kanonisierten Werke der Philosophiegeschichte.)

Das Schaulaufen des akademischen Nachwuchses war, obgleich bisweilen in sehr spärlich besetzten Hörsälen stattfindend, nicht der unwichtigste Teil des Geschehens. Inzwischen scheinen «analytischer» Stil und «metaphysischer» Inhalt wie selbstverständlich Hand in Hand zu gehen – Migräneanfälle löst das nur selten aus.


Nota. - Ich fasse zusammen: Er lebt wohl immer noch; doch in seinem Heimatland nur noch eben so, schon sind sie dabei, ihn zum Klassiker einzubalsamieren. Der Witz ist: Gerade in Amerika, dem Mutterland des analytischen Heuschreckenschwarms, ist Kant, ist die Kritische Philosophie so prominent wie noch wie, und wird immer prominenter. Selbst mein Fichte-Blog hat ein Gutteil seiner Leser in den USA
JE  


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