Freitag, 31. Juli 2015

Wie sehr strengt Klugheit an?

aus nzz.ch, 27.7.2015, 15:46 Uhr

Klug, klüger ...
Intelligenz zeigt sich an Hirnaktivität
ETH-Forscherinnen haben die Hirnaktivität von Klugen und Klügeren gemessen. Bei bestimmten Aufgaben zeigten sich klare Unterschiede. 

(sda)/AJa. ⋅ Dass ein intelligenter Mensch sein Gehirn weniger anstrengen muss, um eine Aufgabe zu lösen, als «Normalos», ist nicht erstaunlich. Wissenschafter reden dabei von der sogenannten neuralen Effizienz. Forscherinnen der ETH Zürich haben nun das sogenannte Arbeitsgedächtnis von «Klugen» und «noch Klügeren» gemessen. Bei bestimmten Aufgaben erkannten sie klare Unterschiede in der Hirnaktivität.

Verschieden nur im Mittelfeld

Die Forscher unter der Leitung von Elsbeth Stern, Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung, massen bei mehr als 80 freiwilligen Studentinnen und Studenten per Hirnstrommessung (EEG) die Hirnaktivitäten, während sie unterschiedlich schwierige Aufgaben lösten. Weder bei den leichten noch bei den sehr schwierigen Aufgaben zeigten sich messbare Unterschiede der Hirnaktivität, wie die ETH Zürich am Montag mitteilte. Dagegen war dies der Fall bei den mittelschweren Aufgaben.
Die Tests waren darauf ausgelegt, die neurale Effizienz beim Arbeitsgedächtnis zu messen. Unter Letzterem versteht man die Fähigkeit eines Menschen, bereits Gelerntes mit neuen Informationen zu verknüpfen und andere auszublenden, die in einer neuen Situation unwichtig geworden sind. Zum Beispiel sollten die Testpersonen unter Zeitdruck für einzelne Gesichter oder Buchstaben entscheiden, ob sie Teil einer just zuvor gezeigten Serie von Gesichtern oder Buchstaben waren. Die Elemente waren den Probanden aus vorherigen Runden bekannt, es handelte sich also um bereits Gelerntes.
Kluge contra Klügere

Bisher wurde die neurale Effizienz an jeweils deutlich verschieden intelligente Menschen getestet. Nun wurde die Hypothese erstmals an Menschen belegt, die alle – in unterschiedlichem Grad – überdurchschnittlich intelligent sind. Für die Auswertung wurden die Teilnehmenden anhand von herkömmlichen IQ-Tests in zwei Gruppen eingeteilt: leicht beziehungsweise stark überdurchschnittlich intelligent.
Dass sich messbare Unterschiede nur bei den mittelschweren Aufgaben zeigten, erklärt Stern so: Die leichten Aufgaben waren für beide Gruppen kinderleicht zu lösen. Bei den sehr schwierigen mussten auch die stark überdurchschnittlich intelligenten Testpersonen einen Grossteil ihrer kognitiven Ressourcen einsetzen. Nur bei den mittelschweren Aufgaben zeigte sich daher, dass die Klugen und die Klügeren zwar gleich gut abschnitten, die Klügeren dafür aber ihr Gehirn weniger aktivieren mussten.
Kein guter Intelligenztest

Allerdings sind ein EEG und andere Hirnaktivitätsmessungen nicht präzise genug, um die Intelligenz eines Menschen festzustellen. Dafür «muss ich einen klassischen Intelligenztest machen», wird Stern zitiert. Die Studie dient der Grundlagenforschung, um zu untersuchen, auf welche Weise sich Intelligenzunterschiede im Gehirn abbilden.

Donnerstag, 30. Juli 2015

Der Fisch in dir und mir.

Ein Dienstleister bei der Arbeit: Solange er gut putzt, droht von der Muräne keine Gefahr. Und bei ihr putzt er gut, sonst würde es riskant.


















aus Die Presse, Wien, 25.07.2015 | 18:24                                                                                                Muräne und Putzerfisch

Auf dem Markt der Fische
Die Intelligenz der schwimmenden Ahnen wurde lang unterschätzt. Nun bringt ein Forscher sie zutage – und damit die Primatologie zum Erbeben.

von Jürgen Langenbach

Sie begegnen einander selten, die beiden Jäger an Korallenriffen im Roten Meer: der Forellenbarsch und die Muräne. Der eine ist am Tag und im offenen Wasser hinter Beute her, die andere stöbert nächtens in Spalten herum. Aber bisweilen begegnen sie einander doch, und dann gehen sie nicht etwa aufeinander los, im Gegenteil, sie tun sich zusammen, der eine gibt der anderen mit dem Kopf einen Wink, die andere gesellt sich zu ihm und jagt aus den Verstecken heraus, was sie kann. Wem Beute zuerst vor das Maul schwimmt, der schnappt zu. Beide profitieren: Vor dem Barsch suchen Fische Schutz in den Korallen, vor der Muräne flüchten sie ins offene Wasser. Tauchen beide gemeinsam auf, ist alles verloren.

Als Redouan Bshary (MPI für Verhaltensphysiologie, Seewiesen) das zum ersten Mal sah, blieb ihm der Mund nur deshalb nicht offen stehen, weil er den Schnorchel darin hatte. Zwei Arten tun sich zum Jagen zusammen? Das gibt es in der Natur nicht, das gibt es nur bei Menschen, die Gehilfen domestizierten: Hunde, Falken etc., auch Delfine treiben mancherorts Fischern Beute zu. Aber Fische? Von ihnen wusste noch der Film „Finding Nemo“ 2003 zu berichten, dass die kognitiven Fähigkeiten mancher gerade dazu reichen, eine Erinnerung für drei Sekunden im Gedächtnis zu behalten. Schon 1960 jedoch wurde berichtet, dass frei lebende Fische sich sechs Monate an eine fütternde Hand erinnerten. Wenn man sie darauf konditioniert, Futter mit einem Ton zu assoziieren, dann haben Forellen das nach 14 Sitzungen verinnerlicht, Ratten brauchen 40. (Animal Cognition 18, S.1)
Ihrer Intelligenz wegen ist auch Bshary auf die Fische gekommen: Sein Doktorvater, Roland Noë, hat 1994 postuliert, dass es unter Tieren oft wie unter Menschen auf einem Markt zugeht: Sie tauschen Leistungen, etwa Futter gegen Schutz (Behavioral Ecology and Sociobiology 35, S.1). „Eine attraktive Theorie – aber es gab keine starken Daten“, urteilte Bshary und folgte einem Wink des Fischökologen Hans Fricke: Er möge sich Putzerfische ansehen. (Nature 521, S.413)
Das sind Dienstleister, die andere Fische von Parasiten auf der Haut befreien – sie beweiden sie –, und an ihnen bemerkte Bshary im Detail, dass es auf dem Markt der Tiere nicht anders als auf einem der Menschen zugeht: Wenn ein seltener Kunde vorbeikommt, wird zuerst er geputzt, die Alltagsklientel muss warten, sie hat keine Wahl. Umgekehrt bringt derjenige, der morgen nicht mehr da ist, eine größere Versuchung, ihn zu betrügen: nicht Parasiten von seiner Haut zu beißen, sondern von der Haut selbst bzw. dem Schleim auf ihr zu naschen. Solcher Betrug wieder kommt seltener vor, wenn der Klient ein Raubfisch ist. Natürlich werden auch andere ungehalten, wenn sie Bisse spüren, sie suchen das Weite, Putzerfische eilen hinterher und besänftigen, mit Fächeln. Und sie passen aufeinander auf: Oft putzen sie paarweise, dann wird weniger betrogen. (Nature 455, S.464)
Macht des Blicks.

Und alle halten unentwegt die Augen offen: Potenzielle Klienten beobachten, wie Putzer putzen, und wenn Putzer beobachtet werden, putzen sie besser (Current Biology 21, S.1140). Das erinnert stark an Wohltätigkeitsveranstaltungen, bei denen Prominente edel, hilfreich und gut werden, wenn und solange das Auge der TV-Kamera auf ihnen ruht. Auch das andere Verhalten der Putzer ist menschlich: Mit schlechter Ware zu betrügen gehört zum Markt, Kundenärger zu beschwichtigen auch.
Menschlich? Bei Fischen? Sie sind unsere Ahnen, nach ihrem Bauplan formen sich unsere Körper: Sie haben vor 470 Millionen Jahren das Rückgrat erfunden, den Schädel auch, an ihm platzierten sie links und rechts Sinnesorgane, wir haben so viel von ihnen, dass Paläontologe Neil Shubin (Chicago) überall auf den Straßen „Fische herumlaufen“ sieht („Der Fisch in uns“, S. Fischer). Er hat auch das Fossil jenes Fischs gefunden, der vor 375 Millionen Jahren als erster an Land stieg und zum Ahnherrn aller Vierfüßler wurde.
Von ihnen erhob sich endlich einer auf zwei Beine und blickte wohlgefällig zurück: Er ist die Krone der Schöpfung oder auch das Endprodukt der Evolution, allenfalls seine engeren Verwandten lässt er gelten, auch in der Wissenschaft: Sie sprach lang den Primaten – wir gehören dazu – eine ganz eigene Intelligenz zu, die sie weit über die restliche Tierwelt erhebt.
Dann kam der erste Strich durch die Rechnung, von Vögeln: Viele, vor allem aus der Familie der Raben, handeln mit höchster Intelligenz, und das, obwohl sie den Teil des Gehirns, der uns zu vergleichbaren Leistungen befähigt, überhaupt nicht haben, den Neokortex. Das hat Ludwig Edinger, der Vater der vergleichenden Neuroanatomie, im 19.Jahrhundert bemerkt; es verfestigte sich zum Vorurteil vom Spatzenhirn. Das hielt lang, erst in den 1960er-Jahren fand man ein Pendant zum Neokortex im Vogelgehirn, und heute schüttelt keiner mehr den Kopf, wenn Krähenforscher John Marzluff (Seattle) schwärmt: „Rabenvögel sind fliegende Affen.“
Und Fische sind schwimmende: Bshary beobachtet nicht nur, sondern experimentiert auch: Er hat etwa die Fähigkeiten von Putzerfischen, Kapuzineraffen und Schimpansen verglichen, zudem war seine vierjährige Tochter in den Test einbezogen: Für alle gab es zwei Näpfe mit Leckereien, einen permanent und einen nur temporär zugänglichen, sie hatten verschiedene Farben. Die Putzerfische begriffen als Erste, dass man klugerweise zunächst zu dem greift, was nicht lang da ist. Die anderen Tiere zogen nach, für die Vierjährige war es jedoch zu schwierig.
Nun wurden die Farben ausgetauscht: Die Fische waren abermals besser (PLoS ONE e49068). Dieses Reversal Learning ist eine hohe Leistung, bisher sprach man es nur Primaten zu. Nun lösten die Putzerfische ein mittleres Beben aus, aber Frans de Waal, ein führender Primatologe, begrüßt es durchaus. Er sieht durch Bshary den „Primatenchauvinismus“ erschüttert. Ihre Intelligenz allein würde Barsch und Muräne nicht zum gemeinsamen Jagen ermuntern – ihnen hilft, dass Fische Beute in einem Stück schlucken. Würden etwa Hyänen und Leoparden eine ähnliche Kooperation versuchen, käme es anschließend zum Kampf ums Fleisch.



Samstag, 25. Juli 2015

Abraham und Isaak für politisch Korrekte.

aus beta.nzz.ch, 25.7.2015, 05:30 Uhr

Abraham und Isaak im Jüdischen Museum Berlin
Glaube und Gehorsam
Saskia Boddeke und Peter Greenaway haben im Jüdischen Museum Berlin eine Ausstellung zur Geschichte von Abraham und Isaak inszeniert. Die Schau ist multimedial, ihre Perspektive eher eindimensional.

ujw. Als Abraham Gottes Stimme hörte, die ihm Ungeheuerliches gebot, die ihm nämlich befahl, seinen Sohn Isaak als Brandopfer auf einem Berge darzubringen – hätte er da entgegnen müssen: «Dass ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott seist, dessen bin ich nicht gewiss, und kann es auch nicht werden . . .»? – Davon, dass dies die einzig vernünftige Reaktion auf das Ansinnen einer «vermeintlich göttlichen Stimme» gewesen wäre, war Immanuel Kant, von dem die phantasievolle Variation der biblischen Geschichte stammt, überzeugt. Bereits zu des Königsberger Aufklärungsphilosophen Zeiten werden manche seinen Einwand wohl für zu höflich vorgebracht befunden haben. Kant aber hielt nicht jeglichen Gottesglauben für Humbug; er war allerdings der Auffassung, es sei schlechterdings unmöglich, «dass der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen» könne.

Gottesfurcht?

Wer gebietende Stimmen aus dem Off hört, sollte – salopp übersetzt – Vorsicht walten lassen, denn er könnte sich verhört haben. Zwar hat Abraham sich nicht verhört – erzählt wird in Genesis 22 nicht die Geschichte eines Irrtums, sondern die Geschichte einer (dem Leser angekündigten) Prüfung. Aber der auf die Probe Gestellte hört ein zweites Mal eine Stimme. (Ist es dieselbe?) Sie verhindert, dass er tut, was zu tun er aufgefordert und anscheinend widerstandslos willens war. Auf dem dramatischen Höhepunkt des äusserst knapp geschilderten Geschehens ruft der «Bote des Herrn» – aus dessen Munde Gott selbst spricht – Abraham zu: «Strecke deine Hand nicht aus gegen den Knaben und tu ihm nichts, denn nun weiss ich, dass du gottesfürchtig bist, da du mir deinen Sohn, deinen Einzigen, nicht vorenthalten hast.»
Was soll man von einem Gott halten, der ein übles Spiel mit dem zu treiben scheint, der sich ganz und gar auf ihn verlässt und den dieser Gott selbst einst mit Segnungen und Verheissungen überschüttet hat? Und in was für eine Gottesfurcht ergibt sich Abraham, der offenbar bereit ist, sein Kind hinzuschlachten – ist das Ehrfurcht vor einem Erhabenen? Oder ist es Furcht vor einem Grausamen? Warum hat Abraham Gott nicht gebeten, von der Forderung des Sohnesopfers abzulassen – so wie er sich bei ihm unnachgiebig für die wenigen Gerechten einsetzte, die in Sodom allenfalls vor dem Zorn des Herrn zu retten gewesen wären? Prüft der schweigsame Abraham, als wäre er listiger Kantianer, seinerseits Gott, indem er nur so tut, als werde er der Anordnung willfahren? Oder wird er getragen von einer Glaubenskraft, die kraft des Absurden glaubt? Von einem Vertrauen auf einen gütigen Gott, das jede Verstandeslogik sprengt, das allem Verhängnis zum Trotz hoffnungsfroh ist und am Ende ja auch belohnt wird? Oder ist es – doch – blinder Gehorsam? Ist es gar Wahn?
Im Laufe der Überlieferungsgeschichte ist reichlich Phantasie in die Deutung, in die Um- und Fortschreibung der abgründigen Erzählung investiert worden – in der Absicht, sie verständlich, sie «passend» zu machen. Das gilt für alle drei Religionen, in denen Abraham als Gründerfigur seine – je verschiedene – Rolle spielt. Nicht zuletzt das weitgehende Schweigen des väterlichen Protagonisten lädt dazu ein, es beredt werden zu lassen. Auch die einschlägigen Verse im Koran tun dies, die sich motivgeschichtlich als Interpretation des biblischen Textes lesen lassen. «Siehe», sagt Ibrahim in Sure 37 zu seinem Sohn, «ich sah im Traum, dass ich dich opfern müsste. Schau, was meinst du dazu?» Und der Sohn antwortet: «O mein Vater! Tu, was dir befohlen wird. Du wirst mich, so Allah will, standhaft finden.» Der Koran nimmt hiermit rabbinische Ausdeutungen auf, die einen opferbereiten Isaak in den Gottesgehorsam einbeziehen und so vielleicht das Ungeheuerliche zu mildern suchen. An der zitierten Stelle bleibt Abrahams Sohn namenlos; heute wird er im Islam überwiegend mit Ismael gleichgesetzt, dem Sohn, den Abraham mit seiner Dienerin Hagar hatte und den die Bibel als Stammvater der Araber verzeichnet.
Zwar hat die Geschichte um Abraham und Isaak oder Ismael in den drei «abrahamitischen» Religionen jeweils ihren rituellen, liturgischen Ort gefunden, an dem sie regelmässig vergegenwärtigt wird (im jüdischen Neujahrsfest, in der christlichen Eucharistie, im islamischen Opferfest), doch von ihrem beunruhigenden Charakter, ihrer Vieldeutigkeit verliert sie dadurch nichts. Das Jüdische Museum Berlin widmet sich derzeit in einer grossangelegten Sonderausstellung dieser religiösen Erzählung. Wie es aussieht, haben sich die beiden Gastkuratoren resolut einer Reduktion der Interpretationsmöglichkeiten verschrieben.
Was der Titel der multimedialen Schau lapidar als Richtschnur zur Deutung der Geschichte vorgibt: «Gehorsam», formuliert Peter Greenaway unter anderem so: «Es ist die Geschichte alter Männer, die Gehorsam fordern und junge Männer in den Krieg schicken.» Der britische Filme- und Ausstellungsmacher verrät als Prämisse dieser schlichten, aber dann doch überraschenden Zuspitzung seine wenig überraschende Überzeugung, «dass es keinen Gott gibt». Ähnliches – «wir opfern unsere Jugend» – sagt auch seine Partnerin, die niederländische Multimediakünstlerin Saskia Boddeke, die wohl federführend bei der Konzeption war; und sie sieht voraus, wie es dem Ausstellungsbesucher ergehen wird: Er werde die Installationen zunächst «interessant und schön» finden, sich dann aber «zunehmend unwohl fühlen» – bis er am Ende gefragt werde: «Bist du ein Abraham? Würdest du dein Kind opfern? Und wie würdest du dich verhalten, wenn ein anderes Kind geopfert wird?»

Fünfzehn Räume
Man darf also sicher sein: Alles ist gut gemeint. Und manches in den fünfzehn Themenräumen ist sogar gut gemacht oder eben «interessant und schön» – wobei das Schöne bisweilen in kunsthandwerklichen oder auch bombastischen Kitsch kippt. Im Treppenaufgang wird der Besucher von einer Reproduktion von Veroneses einschlägigem Gemälde empfangen, um sich dann sogleich im Foyer dem Beginn eines Filmes mit der niederländisch-israelischen Tanzgruppe Club Guy & Roni ausgesetzt zu sehen, dessen Sequenzen, über die Ausstellung verteilt, die Geschichte von der Bindung Isaaks (wie sie in jüdischer Tradition meist genannt wird) in Szene setzen. Die sterile Ästhetik des hochauflösenden Films intensiviert die Leere mancher Geste der Tanzperformance. Immerhin wird durch sinnfreie Gestik wie auch durch die Erweiterung des biblischen Personals um Satan (der in jüdischen und islamischen Ausschmückungen des «Urtextes» vorkommt) das Ganze vieldeutiger und vielfältiger, als es die zitierten einfältigen kuratorischen Äusserungen erwarten liessen.
Im dritten Raum werden per Video Kinder und Jugendliche gezeigt, die (Kunst 2.0) entweder «I am Isaac» oder «I am Ishmael» sagen. Auch sie begegnen auf dem Parcours wieder. Der «goldene Raum» sodann lohnt für sich genommen den Ausstellungsbesuch: Illustrierte heilige Schriften aus neun Jahrhunderten geben Einblicke in die Bildtradition, die sich aus der biblischen Erzählung entwickelt hat. Ein weisser Raum für die Engelserscheinung und – wer hätte es gedacht – ein dunkler für Satan sind rasch durchquert. Die Stationen zum Islam (grüne Wände, ein beinahe fliegender Teppich), zum Christentum und zum Judentum beanspruchen mehr Aufmerksamkeit. Es lässt sich erfahren, was es mit dem Hajj auf sich hat – der Pilgerfahrt nach Mekka, bei der Abrahams, Ismaels und Hagars gedacht wird. Die Bedeutung der Bindung Isaaks für die jüdischen hohen Feiertage wird durch liturgische Gegenstände veranschaulicht; Grabsteine aus dem 13. Jahrhundert erinnern an jüdische Blutzeugen, die sich während des Ersten Kreuzzuges das Leben nahmen, um dem Schwert der Häscher oder der Zwangstaufe zu entgehen: Die Opferbereitschaft Isaaks habe vorbildhaft gewirkt.
Das Christentum, das in der «Opferung» Isaaks eine – theologisch freilich komplizierte – Vorausdeutung auf die Kreuzigung Christi sieht, ist ausser durch eine Vielzahl von Kruzifixen hauptsächlich durch Kunstwerke vertreten: unter anderem Drucke von Rembrandt, Georg Pencz und Otto Dix sowie – im Zentrum – eine per Video-Mapping herbeigezauberte Reproduktion von Caravaggios berühmtem Gemälde, das Abraham in seinem unerbittlichen Gehorsam und Isaak in seiner Wehrlosigkeit drastisch vor Augen stellt. Raum Nummer zehn ist den in der Geschichte abwesenden Müttern Isaaks und Ismaels, Sarah und Hagar, gewidmet. Das ist löblich, aber ohne eigentlichen Erkenntnisgewinn. Ähnliches darf auch von dem Widder gesagt werden, der in einer überlebensgrossen Videoprojektion zu Ehren kommt – ein heutiger Vertreter jenes biblischen Tieres, das Gott zur rechten Zeit als «Ersatzopfer» schickt; begleitet wird er von Damien Hirsts «Black Sheep with Golden Horns» (dessen beide Hälften allerdings hier zusammengefügt sind).

Suggestives Finale
In einem Raum, dessen Boden mit Schafwolle bestreut ist, liegt das von Zurbarán gemalte Lamm Gottes – elektronisch reinkarniert und nicht ohne mystagogischen Reiz – zur Anbetung bereit. Unzählige Stricke, Ketten, Hand- und Fussfesseln sowie sonstige Marterinstrumente hängen auf der Zielgeraden (im Raum «The Binding») drohend von der Decke. Im anschliessenden vierzehnten Raum ist es endlich so weit: Auf einer Videowand in Triptychon-Format tanzen und ringen einerseits die Performer von Club Guy & Roni – und empfinden die nicht geschehene Opferung nach. Andererseits sind aufwühlende dokumentarische Filmszenen zu sehen, die Kinder als Opfer von Krieg und Terror in unserer Gegenwart zeigen. Das ist suggestiv, aber als Interpretation der Geschichte von Abraham und Isaak substanzarm. (Eine gewisse Entschädigung bieten einige Aufsätze im Textteil des zweibändigen Katalogs.) Der Eindruck intellektueller Hilflosigkeit wird verstärkt von den Messern, Dolchen, Macheten, Speeren und Sicheln, die eine andere der Wände des Raumes dekorieren, sowie von den neunzehn Schafen des koreanischen Künstlers Kyu Seok Oh, die – gefertigt aus Papier, Leim und Alu – an einer weiteren, blutigen Wand hängen. Wenn dem Besucher vor dem Ausgang Kinderstimmen die Frage nachrufen: «Or are you an Abraham?», dann seufzt auch er ermattet: Nein, nein, ich bin natürlich ein Isaak.


Zurbarán
Es werde die «spektakulärste Ausstellung», die das grösste jüdische Museum Europas je veranstaltet habe, kündigte dessen Programmdirektorin an. So kann man es auch sehen.
Gehorsam. Eine Installation in 15 Räumen von Saskia Boddeke & Peter Greenaway. Jüdisches Museum Berlin. Bis 13. September.


Nota. - Die Christen können immerhin mildernde Umstände geltend machen. Ihr Gott hat sich ja schließ- lich reformiert und anstelle des alten Bundes mit Abraham einen neuen Bund mit allen Menschen geschlo- ssen. Ab da machen sie nicht genug draus; ihr Altes Testament berichtet von einem Gott, der seither ein anderer geworden ist.
JE

Freitag, 24. Juli 2015

Biochemie des Erinnerns.

Wieslaw Smętek©
aus derStandard.at, 17. Juli 2015, 11:29

Zellulärer Mechanismus für die Gedächtnisbildung entdeckt
Rückwärts wandernde elektrische Impulse aktivieren Rezeptor im Zellinneren

Berlin – Deutschen Forschern ist es gelungen, einen möglicherweise entscheidenden Mechanismus für die Gedächtnisbildung auf die Spur zu kommen. Die Wissenschafter von der Charité–Universitätsmedizin Berlin haben beobachtet, dass rückwärts wandernde elektrische Impulse einen Rezeptor im Innern von Nervenzellen aktivieren und so die Calciumantwort in ausgewählten Bereichen einer Nervenzelle langfristig verändern.

Forschungsergebnisse der vergangenen Jahrzehnte zeigen immer deutlicher, dass Gedächtnisinhalte in Form von dauerhaften Veränderungen in der Art und Weise, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren und in der Stärke ihrer Verbindungen zueinander kodiert sind. Lernen evoziert in den Zellen ein spezifisches Muster elektrischer Aktivität, welches das Antwortverhalten auf eingehende Signale, die Expression von Genen und die Morphologie der Zelle über den Lernvorgang hinaus beeinflusst.

"All diese Veränderungen bilden sozusagen das zelluläre Korrelat unserer Vorstellung des Gedächtnisengramms", sagt Friedrich Johenning, Wissenschafter am Neurowissenschaftlichen Forschungszentrum und einer der beiden Erstautoren der Studie. "Wir beschäftigen uns damit, physiologische Mechanismen zu identifizieren, durch die eine Nervenzelle ihr Antwortverhalten langfristig ändern kann", fügt die gleichberechtigte Erstautorin Anne-Kathrin Theis hinzu.

Langfristige Veränderungen

Die Wissenschafter zeigen in ihrer Studie, dass rückwärts in den Dendritenbaum wandernde Aktionspotentiale langfristige Veränderungen in der Calciumantwort von Spines bewirken. Spines, oder Dornfortsätze, sind kleine, für die Kommunikation zwischen Nervenzellen wichtige Fortsätze der Nervenfasern. Trifft ein rückwärts wanderndes Aktionspotential auf einen solchen Spine, verändert sich kurzfristig die Calciumkonzentration innerhalb des Spines, da Calciumionen durch sich öffnende Ionenkanäle von außen hineinströmen.

Zusätzlich wird ein intrazellulärer Rezeptor aktiviert, der Ryanodin-Rezeptor, der die Freisetzung von in der Zelle gespeichertem Calcium auslöst. Dies führt zu einer langfristigen Veränderung der durch elektrische Impulse hervorgerufenen Calciumantwort im Inneren des Spines. Bemerkenswert ist, dass diese Veränderungen lokal auf einzelne Spines begrenzt sind und benachbarte Fortsätze nicht beeinflusst werden. In Zukunft wollen die Forscher herausfinden, welchen Einfluss diese Spine-spezifischen, langfristig veränderten Calciumantworten auf die synaptische Kommunikation zwischen Nervenzellen haben. 
(red.)

Abstract
PloS Biology: "Ryanodine Receptor Activation Induces Long-Term Plasticity of Spine Calcium Dynamics."



Montag, 20. Juli 2015

Digital Humanities.

aus beta.nzz.ch, 20.7.2015, 05:30 Uhr                                                              Charles Babbage's Difference Engine #2, 1847-9

«Digital Humanities» und die Geisteswissenschaften
Geist unter Strom
Wenn die Geisteswissenschaften nicht wie die Naturwissenschaften konsequent auf digitale Daten setzten, hätten sie keine Zukunft, findet die modisch gewordene Bewegung der «Digital Humanities».

von Urs Hafner

Die einen reden von Revolution, die anderen von Hysterie, wieder andere sind des Themas schlicht überdrüssig. Das Reizwort, das in den Geistes- und Sozialwissenschaften umgeht, heisst «Digital Humanities», übersetzt: digitale Humanwissenschaften, also digitale Wissenschaften vom Menschen. Der virulente Begriff wird jedoch in erster Linie auf die Geisteswissenschaften bezogen. Das macht seinen Reiz aus: Er bringt unvereinbar Erscheinendes zusammen, auf der einen Seite die Geisteswissenschaften mit ihrer altbewährten Hermeneutik, dem Verstehen von Texten und Handlungen, dem Deuten der verborgenen Sinnstrukturen der Welt – und auf der anderen Seite die Zukunft, das Neue, das Digitale und dessen schier unbegrenzte Möglichkeiten, alle Arten von Daten zu speichern, zu verwalten, zu berechnen und auszuwerten.

Ein neues Regime

Nun weiss jeder Geisteswissenschafter, wie auch immer er zum Digitalismus steht, dass dieser Gegensatz so nicht existiert. Auch der Altphilologe mailt, benutzt Datenbanken, verwaltet auf seinem Computer Informationen und schaut sich im Netz dankbar digitalisierte Handschriften und Editionen an, die er sonst in entlegenen Archiven aufsuchen müsste; besonders die digitale Aufbereitung von Texteditionen klassischer Autoren stösst unter Geisteswissenschaftern auf breite Akzeptanz, zumal man diese nun einfach nach Stichworten durchforsten kann. Und selbst die grösste Digitaleuphorikerin kommt – auf der anderen Seite – nicht umhin, die Bilder oder Texte, mit denen sie arbeitet, zu interpretieren, wenn sie denn Geisteswissenschafterin sein will. Der Aufruhr, den die Digital Humanities auslösen, rührt vor allem daher, dass ihre Anhänger das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften angreifen – und dass diese Wissenschaften in einer Krise stecken. Sonst würden sie gelassener reagieren.
Seit dem Aufstieg des New Public Management und des Innovationsparadigmas am Ende des letzten Jahrhunderts stehen alle Wissenschaften vermehrt unter Druck, und wahrscheinlich werden sie ihn in naher Zukunft angesichts knapper werdender Bundesmittel noch mehr spüren. Sie müssen in einer «ökonomisierten» Forschungslandschaft Drittmittel einwerben, ihre Leistungen belegen, ihren Nutzen nachweisen und zur volkswirtschaftlichen Prosperität beitragen. Im Idealfall sollten sie ein marktfähiges Produkt oder wenigstens ein schlagendes Resultat hervorbringen. Vor allem die Geisteswissenschaften machen unter diesem neuen Regime keine gute Figur, abgesehen von einigen wenigen Historikern, die ihre sich entweder mit nationalgeschichtlichen Themen oder mit den Biografien prominenter Gestalten beschäftigenden Bücher einem breiten Publikum gut verkaufen, dafür aber nicht ganz selten die Verachtung ihrer Akademikerkollegen ernten. In die Defensive geraten, stehen die Geisteswissenschaften unter dem Generalverdacht des «L'art pour l'art».
Interessanterweise gelten für die Naturwissenschaften nicht die gleichen Massstäbe, auch wenn ihre Grundlagenforschung oft ebenfalls wenig «Positives» und «Zählbares» produziert. Sie geniessen allerdings wie etwa die Biologie den Vorteil, sich mit ihren Forschungen in eine Kette einzureihen, an deren Ende verheissungsvoll ein neues Medikament oder eine bahnbrechende Therapie winkt. Auf dem steinigen Pfad dorthin, das scheint allgemein akzeptiert zu sein, müssen auch Umwege und Rückschläge in Kauf genommen werden. Umgekehrt üben etwa die Erkenntnisse der Teilchenphysik, auch wenn sie nur wenige wirklich begreifen dürften, eine so grosse Faszination aus, dass die gewaltigen Summen, die zum Beispiel das Cern verschlingt, kaum hinterfragt werden.
Dass die meisten Geisteswissenschaften (wie auch manche Naturwissenschaften) kaum marktkompatibel sind, leuchtet ein, nicht jedoch, wieso sie sich so schwertun, der Gesellschaft ihre kulturellen Leistungen, ihren «Nutzen», mitzuteilen. Eigentlich müssten sie in die Offensive gehen. In den angelsächsischen Ländern ist ihre Lage mittlerweile prekär. Die Geisteswissenschaften erhielten kaum mehr öffentliche Gelder und müssten sich fast vollständig durch Studiengebühren finanzieren, sagt der Philologe Gerhard Lauer von der Universität Göttingen. Wenn sie so weitermachten wie bisher, hätten sie keine grosse Zukunft. Lauer ist ein Anhänger der Digital Humanities.
Die digitalen Werkzeuge scheinen in der Tat wie gerufen zu kommen. Sie verschaffen den Geisteswissenschaften einen zeitgemässen Anstrich und versprechen den Anschluss an die statistisch arbeitenden Naturwissenschaften, welche die Nase bei den Forschungsförderern vorn haben. Doch was versteht man eigentlich unter Digital Humanities des Näheren? Für Claire Clivaz, Theologin und bekennende Befürworterin des «digital turn», haben diese eine «neue Ära» eingeläutet: Nun befassten sich die Geisteswissenschaften endlich nicht mehr nur mit Texten, sondern auch mit unzähligen Dokumenten, mit Tönen und Bildern. – Mit Letzteren haben sie freilich schon länger zu tun.
Clivaz arbeitet am 2013 gegründeten Laboratoire de cultures et humanités digitales der Universität Lausanne, einem Zentrum der Digital Humanities in der Schweiz. Das «Labor» (nicht zufällig bezeichnet der Begriff für gewöhnlich eine naturwissenschaftliche Forschungseinrichtung), das mit den drei Fakultäten der Sozial-, der Geisteswissenschaften und der Theologie verbunden ist, möchte alle Forschenden der Universität Lausanne, die sich mit Digital Humanities beschäftigen, zusammenführen. Als Vorbild erwähnt Clivaz nicht von ungefähr keine geistes-, sondern eine naturwissenschaftliche Disziplin, nämlich die boomende Bioinformatik mit ihren interaktiven und dreidimensionalen Datenvisualisierungen. Das traditionelle «close reading» sei nach wie vor wichtig, doch die Zukunft liege auch in den «big data», ob einem das nun gefalle oder nicht. Nicht zuletzt sei in diesem Bereich Geld vorhanden.
Text und Autorschaft

Ähnlich sieht das Enrico Natale, Historiker und Leiter von Infoclio.ch, der von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften unterstützten digitalen Plattform der Geschichtswissenschaften in der Schweiz. Sie präsentiert nicht nur Stelleninserate, Veranstaltungshinweise und Rezensionen, sondern organisiert Veranstaltungen und schafft Kontakt zu internationalen Projekten. Für Enrico Natale sind die Digital Humanities der Teil der Geschichtswissenschaften, der – nicht ganz unbescheiden – die «Metareflexion» leiste, der über die sich mit der Digitalisierung im Umbruch befindende Wissenschaftspolitik, das Problem der Urheberrechte und die neuen Kommunikationsmöglichkeiten nachdenke.
Für viele ihrer Anhänger sind die Digital Humanities nicht weniger als die neue Disziplin, die die Geisteswissenschaften revolutioniert. Bis jetzt allerdings fällt der Leistungsausweis eher bescheiden aus. Vor zwei Jahren präsentierten Forscher an einer Tagung in Bern eine Reihe von Digital-Humanities-Projekten. Die Rede war zeitgeistkonform von mehr Praxis, mehr Anwendung, mehr Öffentlichkeit, mehr Feedback, mehr Daten und mehr Vernetzung, doch neue Erkenntnisse blieben rar. Unübersehbar zeigte sich die Faszination für das positivistische Neugruppieren grosser Datenmengen, wobei der Aufwand oft in keinem Verhältnis zum Ertrag stand. Inwiefern die digitalen Techniken den Geistes- und Sozialwissenschaften über traditionelle Hilfsdienste hinaus dienlich sein könnten, blieb unklar.
Klar hingegen wurde, dass der argumentative Text, der noch immer das Herz der Geisteswissenschaften bildet, seinen Status verliert. Noch zeugt er als abgeschlossenes Werk, sei es als Aufsatz oder Monografie, von den Begründungen und den Schlüssen seines Autors, der darin seine Erfahrungen, Überlegungen und Lektüren hat einfliessen lassen; noch bildet er ein «Narrativ», das insbesondere in den Geschichtswissenschaften den Lesern eine anhand der Quellen plausibilisierte Geschichte erzählt. Der Text der Zukunft dagegen ist, wenn es nach manchen Vertretern der Digital Humanities geht, eine im Netz «offen» zugängliche Publikation – als ob alles, was dort kosten- und codefrei zugänglich ist, damit der gesamten Weltöffentlichkeit zur Verfügung stünde, die sich brennend etwa für die neusten spezialistischen Erkenntnisse interessierte. Das sich in der Wissenschaftswelt ausbreitende Wort «open» habe, ob es nun um «open data», «open access» oder «open source» gehe, eine starke ideologische Färbung; je mehr «Offenheit», desto mehr Fortschritt und Wohlstand, lautet die simple Gleichung.
Die «offene» Publikation nun stellt die traditionelle Autorschaft infrage: Mehrere Leute können an ihrer Entstehung mitwirken, sie bleibt unabgeschlossen, an die Stelle der Verweise treten massenhaft aggregierte Daten und Objekte. Der Text löst sich auf, verflüssigt sich. Bei dieser Publikation geht der Leser nicht mehr davon aus, dass der Text einen von ihm zu entschlüsselnden Sinn enthält. Er identifiziert in der Publikation vermehrt auftretende einzelne, nicht unbedingt textförmige Elemente, die er weiterverwendet. Diese Arbeit kann auch von einem Programm übernommen werden, das algorithmisch Daten erfasst und sortiert. Allerdings kann ein solches Programm die Daten bloss in Relationen der Wahrscheinlichkeit zueinander setzen, nicht aber daraus Kausalitäten ableiten. Und es kann Texte nicht deuten.
Viele Anhänger der Digital Humanities untermauern ihre Vision gern und mit einigem Sinn für Provokation mit den Arbeiten der Poststrukturalisten Roland Barthes, Jacques Derrida, Michel Foucault und anderen, die den «Tod des Autors» und die Auflösung des Texts schon in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts vorweggenommen hätten. Die anarchischen Zeichendeuter und Diskursanalytiker, die Schöpfer kunstvoller und origineller Monografien als Digitalisten avant la lettre? Diese Sicht beruht auf einem groben Missverständnis. Mit ihren Angriffen auf objektivistische und orthodoxe Tendenzen der Geisteswissenschaften wollten sie gerade das Bewusstsein schärfen für die Macht und den Eigensinn der Sprache.
Was aber bedeutet die Verflüssigung des Textes für die Geisteswissenschaften? Wenn die Digital Humanities sich als eigenständige Disziplin etablieren und mehr sein wollten als eine Hilfswissenschaft – wie in der Historiografie die Heraldik oder die Numismatik –, müssten sie über die methodischen Konsequenzen des Einsatzes des Digitalen nachdenken, sagt Markus Krajewski, Medientheoretiker an der Universität Basel. Das sei bis jetzt kaum geschehen. Er plädiert dafür, die Perspektive umzukehren: nicht zu fragen, was die Geisteswissenschaften von den Digital Humanities, sondern was diese von den Geisteswissenschaften lernen müssten. Für Krajewski nämlich, auch er der Provokation nicht abgeneigt, sind die Digital Humanities nichts Neues. Sein Parforceritt: Die Digitalkalkulation auf der Basis von 0 und 1 gehe auf den 1716 verstorbenen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz zurück; die massenhafte E-Mail-Kommunikation sieht er bereits im intensiven Briefverkehr der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik angelegt; Googles Anspruch hätten schon die Organisationstheoretiker Paul Otlet und Wilhelm Ostwald im Fin de siècle vertreten; Facebooks schöne neue Welt gründe auf Datenstrukturen, mit denen bereits im 18. Jahrhundert (etwa mit der Zeitleiste) das Wissen effizienter gestaltet worden sei; und im Internetserver spiegle sich einerseits die antike römische Post und andererseits der barocke Kammerdiener . . .
Und nun?

Social Media in Antike und Mittelalter? Auf jeden Fall regt die medienhistorische Perspektive dazu an, die grosse Aufregung um die Digital Humanities zu relativieren. Zunächst einmal sind die digitalen Werkzeuge wie seinerzeit der Buchdruck eine neue Technik, die den Wissenschaften die Arbeit erleichtert – aber auch neue Fragen aufwirft: Was passiert mit dem Text unter der Herrschaft des Algorithmus, was passiert beim Leser, wenn – digitale und additiv zusammengestellte – Texte nur noch flüchtig gelesen werden oder gar nicht mehr gelesen werden sollen? Der Aufstieg der Digital Humanities könnte die Geisteswissenschaften aber auch ermuntern, sich selbstbewusst auf ihre Stärken zu besinnen, auf das Lesen (nicht nur von Texten, sondern der Welt), das Nachdenken und Fragenstellen.
Was aber sicher nicht schaden würde: mehr zu wissen über das Funktionieren der Techniken, die man ganz selbstverständlich verwendet, über das Glasfaserkabel und über die Funktionsweise von Datenbanken und Repertorien. Der von Forschern benutzte «Ngram Viewer» von Google beispielsweise, mit dem sich fast fünf Millionen Bücher in verschiedenen Sprachen durchsuchen lassen, beruht auf einer undurchsichtigen Auswahl von Büchern, was die Aussagekraft der Ergebnisse erheblich beeinträchtigt. In diesem Punkt sind sich Skeptiker wie Adepten der Digital Humanities für einmal einig.




Samstag, 11. Juli 2015

Beginn des Werkzeugbaus.

bearbeiteter Stein vom Turkana-See
aus beta.nzz.ch, 20.5.2015, 19:04 Uhr 

Verhaltensevolution
Älteste Steinwerkzeuge entdeckt
In Kenya haben Wissenschafter etwa 3,3 Millionen Jahre alte Werkzeuge aus Stein gefunden. Die Entdeckung wirft neue Fragen zu unseren Vorfahren auf.

Die Vorfahren des Menschen haben vermutlich schon viel früher als bisher angenommen einfachste Steinwerkzeuge angefertigt. So fanden Archäologen der amerikanischen Stony-Brook-Universität Hammersteine und andere bearbeitete Steine in der Nähe des Turkana-Sees im Norden Kenyas, die 3,3 Millionen Jahre alt sein sollen. Die Forscher stellen ihre Entdeckung in der Fachzeitschrift «Nature» vor.

800 000 Jahre älter als bisherige Funde

Die bisher ältesten bekannten Steinwerkzeuge schreiben Experten der Oldowan-Kultur vor 2,5 Millionen Jahren zu. Der Name «Oldowan» leitet sich von einer Schlucht in Afrika ab, in der viele Fossilien und Werkzeuge entdeckt worden waren. Diese Steinwerkzeuge erschienen aber bereits zu ausgefeilt, um Zeugnisse der ersten Versuche unserer Vorfahren zu sein, solche Werkzeuge herzustellen, wie die Archäologin Erella Hovers von der Hebrew-Universität in Jerusalem in einem Begleitkommentar zur Studie schreibt.

Gemäss Untersuchungen datieren die neuen Funde nun auf 800 000 Jahre früher. Sie stellen damit die Ansicht infrage, dass erst die direkten Vorfahren des modernen Menschen, die nach heutigen Kenntnissen vor etwa 2,8 Millionen Jahren auftraten, in der Lage waren, scharfkantige Werkzeuge herzustellen.

Hinweise auf kognitive Entwicklung

Insgesamt fanden die Forscher 149 steinerne Artefakte in dem Gebiet, das sie «Lomekwi 3» nannten; von Hammersteinen bis hin zu Amboss-artigen Steinen, die jedoch alle technisch weniger ausgefeilt sind als die Oldowan-Funde.

Dennoch können die Werkzeuge Aufschluss über die Evolution des menschlichen Hirns geben. Denn für die Herstellung von Werkzeugen ist eine bestimmte Kontrolle der Handmotorik nötig, die entsprechend vor 3,3 Millionen Jahren entstanden sein könnte.

Die Funde geben «Aufschluss über einen unerwarteten und bisher unbekannten Zeitraum homininen Verhaltens», wie Sonia Harmand von der Stony-Brook-Universität in einer Mitteilung erklärt. Als Hominini wird eine Gruppe von Menschenaffen bezeichnet, die sowohl moderne Menschen (Homo sapiens) als auch unsere ausgestorbenen Vorfahren umfasst.

Möglicher Werkzeugbauer

Anthropologen gingen lange davon aus, dass unsere Verwandten aus der Gattung Homo die Ersten waren, die Werkzeuge herstellen konnten. Nun mehren sich allerdings die Hinweise, dass schon frühere Zweige der Hominini, quasi unsere entfernten Cousins, dazu in der Lage waren.

So wurden nahe den Werkzeugfunden der Schädel und weitere Überreste eines 3,3 Millionen Jahre alten, homininen Fossils (Kenyanthropus platytops) entdeckt.

Da der genaue Stammbaum des Menschen noch unklar ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, wie Kenyanthropus platytops genau mit anderen homininen Spezies verwandt ist. Für die Archäologen könnte er jedoch einer der möglichen Werkzeugbauer sein.

Diverse Anwendungen

Doch nicht nur das Alter der Werkzeuge, sondern auch ihre Fundstelle überraschte die Forscher: So ergaben Analysen, dass das Gebiet früher eine Strauch-Baum-Landschaft war. Laut bisherigen Hypothesen führten klimatische Veränderungen zur Verbreitung von Savannen und damit zu einer ganz anderen Tierwelt.

Die Entwicklung von Werkzeugen sei eine Reaktion unserer Vorfahren auf das veränderte Nahrungsangebot gewesen, so die Theorie: Sie hätten scharfkantige Steine angefertigt, um damit Fleisch aus Tierkadavern zu schneiden.

Grösse und Kerben der nun gefundenen Werkzeuge deuteten aber darauf hin, dass unsere Ahnen sie auch anders verwendeten – gerade in einer waldigen Umgebung mit vielen Pflanzen, meint der an der Ausgrabung beteiligte Anthropologe Jason Lewis von der Rutgers-Universität aus dem US-Gliedstaat New Jersey. So könnten sie mit den bearbeiteten Steinen Nüsse oder Wurzelknollen geknackt haben.

Isolierte Ereignisse

In ihrem Kommentar zur Studie warnt Hovers aber vor voreiligen Schlüssen. Alter und Aussehen der Funde forderten zwar dazu auf, die bisherigen Modelle über das Zusammenspiel aus Umweltveränderungen, menschlicher Evolution und technologischem Verhalten neu zu bewerten. Ähnlich wie Ausgrabungen von Tierknochen, die auf 3,4 Millionen Jahre datiert wurden und möglicherweise Schnittspuren von Steinwerkzeugen tragen, handle es sich bei den neuen Funden um ein isoliertes Ereignis. Um daraus Neuerungen in der homininen Verhaltensevolution abzuleiten, müssten weitere Untersuchungen folgen und Lücken im zeitlichen Ablauf mit Daten gefüllt werden.

Nota. -  Dass der Gebrauch von Werkzeugen kein menschliches Privileg ist, gehört inzwischen zur Allge- meinbildung. Menschenaffen, Rabenvögel, Seeotter und wer weiß, wer sonst noch... Doch Werkzeuge selber herstellen, das kann nur der Mensch. Es ist, evolutiv betrachtet, der größere Schritt, und anthropo- logisch betrachtet der entscheidende: Durch das Herstellen von Werkzeug wird der Mensch zum Men- schen, es ist "die erste geschichtliche Tat", wie Karl Marx es nennt, denn damit tritt der Mensch über seine Naturgrenze hinaus: Er beginnt, seine Bedürfnisse selber zu schaffen! Denn aus dem gelegentlichen Be- dürfnis nach einem Werkzeug wird so ein systematisches Bedürfnis nach Werkzeugen und ein Bedürfnis nach immer besseren Werkzeugen. Es beginnt unsere Geschichte.
JE

Donnerstag, 9. Juli 2015

Moralisierende Roboter.

Photocall mit den Star Wars Figuren C 3PO und R2 D2 von Madame Tussauds im Rahmen der Deutschland To aus Die Presse, Wien, 08. 7.2015 | 18:11

Woher sollen Roboter wissen, was gut ist und was böse? 
Die ersten Testfahrten autonomer Automobile und Kriegsgeräte machen die Beantwortung einer Frage dringlich, die Science-Fiction-Autor Isaac Asimov vor über siebzig Jahren formuliert hat: Wie bringt man Ethik in Maschinen?

von Jürgen Langenbach

In seiner Kurzgeschichte „Runaround“, in der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov 1942 einen verrückt gewordenen Roboter imaginierte, formulierte er die „Grundregeln des Roboterdienstes“: 1. Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder, durch Unterlassung, zu Schaden kommen lassen. 2. Ein Roboter muss Befehlen von Menschen gehorchen, es sei denn, das würde mit Regel 1 kollidieren. 3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange das nicht mit Regel 1 oder 2 kollidiert.

Asimov war ein weitsichtiger Mann, „Runaround“ spielt im Jahr 2015: Seit Mai fahren in der Wüste Nevadas autonome Lkw von Daimler herum, vielleicht begegnen sie bald den fahrerlosen Pkw von Google. Da werden sie schon auch einmal in Kollisionsgefahr geraten und entscheiden müssen: Wer weicht dann wie aus, möglicherweise zum Schaden von Dritten, die auch auf der Straße oder an ihrem Rand unterwegs sind? Solche Fragen waren dem US-Pentagon wichtig genug, um mit dem Thinktank Brookings Institution eine Tagung über Driverless Cars abzuhalten, aus Deutschland bzw. für Siemens war Karl-Josef Kuhn dabei, er formulierte die Frage dahingehend, wie man Roboter für Situationen rüsten kann, in denen „zwischen zwei Übeln gewählt werden muss“ (Nature 523, S.25).

Qual der Wahl: Das Wohl erzwingen?

Dann reicht Asimovs Regelwerk nicht hin, selbst in scheinbar schlichten Fragen: Man stelle sich einen Roboter vor, der Kranke und Alte betreut und sie zu festen Zeiten daran erinnert, ihre Medikamente einzunehmen. Wenn die Kranken und Alten sie aber nicht nehmen wollen? Dann ist ihre Gesundheit in Gefahr. Erzwingen kann der Roboter aber auch nichts, sonst wäre die Autonomie der Klienten außer Kraft gesetzt.


Das Ehepaar Anderson – sie Philosophin, er Computerforscher – hat die Situation durchgespielt und versucht, einen Spielzeugroboter – Nao – auf die Aufgabe vorzubereiten: Es hat ähnlich gelagerte Dilemmata bzw. ihre Lösungen aus Moralratgebern zusammengesucht, Nao sollte sie studieren und auf diesem Weg zum „Ethical Intelligent Agent“ werden: Die Entscheidungen trifft dann er, sie sind ihm nicht einprogrammiert.

„Das Letzte, was man haben möchte, wäre ein Roboter, den man auf eine Militärmission schickt und der in der Mitte des Geschehens ausarbeitet, welchen ethischen Regeln er folgen soll“, widerspricht Ronald Arkin, der im Auftrag des US-Militärs daran arbeitet, Kampfroboter mit einem Ethical Governor auszustatten, der für die Einhaltung des Kriegsrechts sorgt, etwa dafür, dass ein vollautomatischer Panzer, der auf feindliche Ziele hält, dann nicht abdrückt, wenn ihm ein Lazarett in die Kameraaugen gerät.

Dann entscheidet der Algorithmus, ganz sachlich und emotionslos, Arkin hält das für besser als Entscheidungen von Menschen, die auch von Emotionen getrieben sind, viele stimmen ihm dabei zu.

Aber diese Entscheidung – legitimes Ziel oder nicht – ist einfach, härter wird es bei Alan Winfield (Bristol). Der hat Roboter in der Größe von Hockey-Pucks programmiert. Die einen heißen H-Robots – nach human – und fahren auf einer Oberfläche herum, in der Löcher sind, die sie verschlingen können. Davor sollen A-Robots – nach Asimov – sie bewahren. Sie tun das auch zuverlässig, solange sie mit einem H-Robot zu tun haben: Sie eilen zwischen ihn und das Loch.

Aber schon, wenn es zwei H-Robots sind, wird die Sache schwierig: Manche A-Robots beeilen sich dann so, dass sie beide retten, andere bleiben gelähmt wie Buridans Esel. Und wenn nun noch der eine H-Robot ein Kind ist und der andere ein alter Mann, gar einer mit Erfahrung, die für das Überleben aller wichtig ist? Dann ist die künstliche Intelligenz endgültig überfordert. Aber die natürliche ist es auch: Wie würden Sie entscheiden?


Nota. - Hier geht es überall nur um soziale Nützlichkeit und nicht um Moral. Es wird dem Computer einprogrammiert, sich dem Wohl der Menschheit verpflichtet zu fühlen: dies ist der Maßstab, vor dem er seine Entscheidungen idealiter zu rechtfertigen hätte. Das kann im idealen Fall durch sachliches Vergleichen von Messdaten geschehen. Moralisch ist eine Wahl aber dann, wenn ich sie vor mir selber rechtfertigen muss - und nicht vor einem gedachten Abstraktum. Und das ist keine sachliche und keine Verstandesentscheidung, die durch das Abwägen von Gründen zu treffen wäre. 

Es ist, trivial gesprochen, eine Gewissensentscheidung, durch die ich bestimme, was ich von mir selber halten will - nein: die davon bestimmt wird, was ich von mir selber halte. Und sowas kann der Computer nicht, weil er niemanden kennt, den er für "sich-selber" halten könnte; er kennt ja nicht einmal den Ingenieur, der ihn programmiert hat.
JE   

Sonntag, 5. Juli 2015

Wir denken nicht logisch.



Wir denken aber nicht in Begriffen. Wir denken auch nicht logisch. Das diskursive Denken, das Begriffe in geregelten Schritten an einander knüpft, ist lediglich kritisch. Man braucht die Logik überhaupt nicht zum Denken, sondern nur zur Prüfung des Denkens.* Das wirkliche, nämlich schöpferische Denken geschieht in einer Kaskade von unfasslichen Bildern. Erst wenn ich "daraus was machen" will – diese oder jene Handlung etwa, oder eine Mitteilung an Andere , muss ich es feststellen, nämlich festhalten und bestimmen: durch ein Zeichen; am besten eins, das ich aussprechen kann.

aus Bilder, Zeichen und Begriffe.


*) Diesen Gedanken, so einfach er ist, musste ich erst bei Max Adler finden.** Jahrzehntelang habe ich mich heimlich geniert, weil ich wusste, dass ich nicht durch logisches Schlussfolgern zu meinen Einfällen komme, sondern... ich weiß nicht wie!  Da stieß ich auf diesen einfachen Satz, und die Schuppen fielen mir von den Augen. 

**) in Max Adler, "Die Dialektik bei Hegel" in Marxistische Probleme, Stuttgart 1913, S. 27


Samstag, 4. Juli 2015

Lösungen im Traum vorausahnen.


aus scinexx

Auch Ratten träumen von der Zukunft
Gehirn spielt künftige Wege schon vorab durch
Unbewusste Zukunftsplanung: Ähnlich wie wir können Ratten im Schlaf für die Zukunft planen. Ihr Gehirn spielt künftige Wege schon mal vorab durch, wie ein Experiment nun belegt. Hatten die Ratten eine noch unerreichbare Futterquelle gesehen, nahm die Hirnaktivität in ihrer "mental map" den Weg zum Futter bereits vorweg. Bisher kannte man diese Rekapitulation nur für bereits absolvierte Wege, wie die Forscher im Fachmagazin "eLife" berichten.

Ratten haben einen schlechten Ruf, gelten oft als "Ekeltiere". Dabei sind diese Nager uns in vielem ähnlicher als man lange glaubte: Sie können Reue empfinden, den Schmerz eines Artgenossen erkennen und orientieren sich, wie wir auch, durch mental maps. Hugo Spiers vom University College London und seine Kollegen haben nun eine weitere Gemeinsamkeit aufgedeckt. Sie betrifft den Schlaf – oder genauer das Träumen.

Gehirn "träumt" zurückgelegte Wege…

Für ihren Versuch setzten sie Ratten in einen gegabelten Gang, bei dem ein Arm leer war, der andere ein begehrtes Futter enthielt. Der Zugang zu diesem Arm war jedoch noch versperrt. Anschließend wurden die Ratten in einen Ruhekäfig gesetzt, in dem sie eine Stunde schliefen. Während des Schlafs leiteten die Wissenschaftler die Hirnströme der Ratten ab. Das geschah auch später, als die Tiere erneut in den T-Gang durften - diesmal mit freiem Zugang zum Futter.


Wie sich zeigte, waren im Schlaf genau die Zellen im Hippocampus des Rattenhirns aktiv, die normalerweise als mental map dienen. "Während der Ruhe spielt der Hippocampus die zuvor absolvierten Wege durch diese Karte erneut ab, das stärkt wahrscheinlich das räumliche Gedächtnis", erklärt Spiers. "Man vermutet, dass diese Wiederholung auch einen Teil unserer Träume bildet."

…und "übt" zukünftige Routen

Aber im Fall der Ratten beobachteten die Forscher Erstaunliches: Das Muster der Hirnaktivität entsprach nicht nur dem zuvor tatsächlich absolvierten Weg - es spiegelte auch den Weg zum Futter wider. Obwohl die Ratten diesen Abzweig des Ganges nie betreten hatten, nahm ihre mental map diesen Weg quasi vorweg. "Das ist das Überraschende", sagt Koautorin Freyja Olafsdottir vom University College. "Wir sehen hier den Hippocampus für die Zukunft planen, er übt die neuen Wege ein, die die Ratten später zum Futter zurücklegen müssen."

Nach Ansicht der Forscher spricht dies dafür, dass auch Ratten in gewisser Weise von der Zukunft träumen können – zumindest, wenn genügend Anreiz in Form von Futter vorhanden ist. "Noch wissen wir nicht genau, wozu diese neuronalen Simulationen gut sind", sagt Caswell Barry vom University College. "Dieser Prozess könnte aber dazu dienen, die verfügbaren Optionen zu bewerten und herauszufinden, welche am ehesten eine Belohnung bringt. Die Ratten denken das Ganze unbewusst schon mal vorab durch, wenn man so will." (eLife, 2015; doi: 10.7554/eLife.06063)

(University College London, 26.06.2015 - NPO)

Nota. - Was dem Menschen als Denken zu Bewusstsein kommt, hat eine lange Vorgeschichte - in der Evolution, gewiss, aber die wiederholt sich in seinem Gehirn stets aufs Neue. Zu Begriffen und logischen Schlussregeln kommt er erst ganz am Ende: nämlich erst, wenn er sie in der Vorstellung überprüft, um sie nicht erst durch Scheitern in der Praxis falsifizieren zu müssen.
JE


Freitag, 3. Juli 2015

Wie Erinnerung entsteht.

Der Schauspieler Clint Eastwood vor dem schiefen Turm von Pisa.
aus Tagesspiegel.de, 01.07.2015 18:53 Uhr                                                         Clint Eastwood vor dem schiefen Turm von Pisa

Studie zum Gedächtnis
Der Moment des Lernens
Schnellmerker im Schläfenlappen: Erstmals ist es gelungen, einzelnen Zellen im menschlichen Gehirn beim Erzeugen von Gedächtnisinhalten zuzusehen

Von Hartmut Wewetzer

Wissen Sie noch, was Sie getan haben, als Sie vom Fall der Berliner Mauer erfuhren? Was haben Sie gerade gemacht, als die gekaperten Flugzeuge in die Twin Towers flogen? Die meisten Menschen können solche einschneidenden Momente mit persönlichen Erinnerungen verbinden. Ihr Gehirn hat beides miteinander verknüpft, das historische Ereignis und das private Erleben. Vereinfacht gesagt: Gedächtnis entsteht aus Verknüpfungen. Forscher haben nun erstmals zeigen können, was beim Herausbilden von Erinnerungen in einzelnen Nervenzellen des menschlichen Gehirns passiert.

Matias Ison von der britischen Universität Leicester und sein Team arbeiteten mit 14 Patienten, die unter schweren Krampfanfällen (Epilepsie) litten. Diesen Patienten waren Elektroden im Gebiet des mittleren Schläfenlappens eingesetzt worden. Die elektrischen Messfühler zeichneten die Impulse von mehr als 600 einzelnen Nervenzellen in diesem Areal auf. Die Elektroden dienten dazu, für die epileptischen Anfälle ursächliche elektrische Störherde ausfindig zu machen, um sie danach chirurgisch zu entfernen. Die Hirnforscher benutzten die Elektroden jedoch vorübergehend zu einem anderen Zweck, wie sie im Fachblatt „Neuron“ berichten. Mit ihrer Hilfe studierten sie, wie Erinnerungen mit einzelnen Nervenzellen in Verbindung stehen.

Lernen, dass Clint Eastwood und der schiefe Turm von Pisa zusammengehören

Die Versuchspersonen betrachteten auf Bildschirmen zunächst Fotos von Familienmitgliedern, Schauspielern, Sportlern und bekannten Orten wie dem Eiffelturm, dem Weißen Haus und dem schiefen Turm von Pisa. Dann wurden Prominente und berühmte Orte in Fotomontagen verknüpft: Clint Eastwood tauchte vor dem Schiefen Turm auf, Jennifer Aniston vor dem Eiffelturm und Tiger Woods vor dem Weißen Haus.

Während des Experiments registrierten die Wissenschaftler die Impulse der einzelnen Nervenzellen. Ihre elektrischen Entladungen, „Feuern“ genannt, unterschieden sich. War die Nervenzelle „gleichgültig“ gegenüber einem Bild, „feuerte“ sie lediglich dreimal in der Sekunde. Reagierte sie auf das Bild, stieg die Rate auf 13-mal pro Sekunde, gut das Vierfache.

Für Nervenzellen gilt: Ein bisschen Lernen gibt's nicht

Viele Nervenzellen waren imstande, nach nur einer einzigen Präsentation eines kombinierten Bildes – etwa Eastwood und der Turm – den Zusammenhang zu „lernen“ und zu erinnern. War eine Zelle zunächst nur auf Eastwood ansprechbar, reagierte sie nach dem Anblick der Fotomontage nun auch auf den Turm, wenn er allein abgebildet war. Und eine Zelle, die bislang nur beim Anblick des schiefen Turms gefeuert hatte, tat dies nun auch, sobald Clint Eastwoods Konterfei auftauchte. Dabei galt das Alles-oder-Nichts-Prinzip. Zellen „kapierten“ den Zusammenhang oder blieben stumm. Ein bisschen Lernen gab es nicht.

„Es war frappierend zu sehen, wie dramatisch diese Veränderungen waren, traten sie doch bereits im Moment des Lernens auf. Und das sogar schon im ersten Anlauf“, sagt der Studienleiter Matias Ison. Das blitzschnelle Verknüpfen zweier „Konzepte“ (Eastwood und Turm), verbunden mit rascher Änderung der Nervenaktivität, sei die ideale Grundlage zum Erschaffen neuer „episodischer“ Erinnerungen, meint Ison. Womit wir wieder bei „Episoden“ wie dem Mauerfall wären, die sich in das Gedächtnis jedes Zeitgenossen eingebrannt haben.

Eine Erinnerung wird auf ein Netzwerk von Zellen verteilt

Der mittlere Teil des Schläfenlappens gilt als wichtiges Zentrum für das Entstehen von Erinnerungen. Die Studie legt jetzt nahe, dass das Verknüpfen von „Inhalten“ (wie Eastwood und Turm) und damit das Entstehen von Erinnerungen auf einzelne Nervenzellen in dieser Hirnregion zurückgeführt werden kann. Bisher waren lediglich im Tierversuch an einzelnen Nervenzellen Lernprozesse studiert worden.

Allerdings darf das nicht zu dem Fehlschluss verleiten, bestimmte Zellen würden bestimmte Gedächtnisinhalte speichern. Es gibt im Gehirn keine einzelne Nervenzelle, die für Clint Eastwood, die Berliner Mauer oder den schiefen Turm von Pisa zuständig ist. Erinnerungen werden vielmehr in Netzwerken von Zellen organisiert, über deren Aufbau vieles noch ungeklärt ist.

Die Wissenschaftler wollen nun studieren, warum manche Verknüpfungen langfristig bestehen bleiben und Teil des Langzeitgedächtnisses werden, während andere einfach vergessen werden. Auch für die Behandlung von Gedächtnisverlust, etwa infolge von Alzheimer, erhoffen sich die Forscher Fortschritte.



Mittwoch, 1. Juli 2015

Raum, Zeit, Gedächtnis.

aus DiePresse.com, 30.06.2015 | 09:42  

Österreichischer Forscher findet Hauptuhr des Gehirns
Der Mediale Entorhinale Cortex sendet zeitliche Informationen an das Lernzentrum. Auf diesem Weg könnte man die Gedächtnisfunktionen verbessern.

In einer Gehirnregion namens "Medialer Entorhinaler Cortex (MEC)" haben Säugetiere einen Plan ihrer Umgebung gespeichert. Seine Zellen senden dem Lernzentrum (Hippocampus) aber vorwiegend zeitliche Informationen, fand der österreichische Biologe Stefan Leutgeb mit einem Team heraus. Er ist damit vermutlich die "Hauptuhr" des Gehirns, erklären die Forscher im Fachmagazin "Nature Neuroscience".

Erinnerungen bilden

Für die Navigation im Raum spiele der Entorhinale Cortex dennoch eine entscheidende Rolle, indem er für zeitliche Präzision sorgt, so Leutgeb, der an der University of California in San Diego (USA) forsch. Damit Erinnerungen (zum Beispiel an die Umgebung) gebildet werden können, sei eine zeitlich gut abgestimmte Aktivität der Nervenzellen nötig, denn sonst würden die Informationen durcheinandergebracht, und in der falschen Reihenfolge gespeichert. Was vermutlich fatal ist, wenn man sie anschließend abrufen und sich irgendwo zurechtfinden will.
Die Forscher hatten Zellen im MEC von Ratten manipuliert und untersucht, wie sich das auf die Informationsübertragung an den Hippocampus auswirkt. Bisher habe man angenommen, dass vor allem räumliche Informationen von den "Rasterzellen" (grid cells) im MEC an die "Ortszellen" (place cells) im Hippocampus gesendet werden. "Wir haben aber herausgefunden, dass hauptsächlich das präzise Timing der neuronalen Aktivitäten im Hippocampus von Signalen aus dem MEC abhängt", erklärte Leutgeb.
Gedächtnisfunktionen verbessern

Das interne Navigationssystem ist bei vielen Nervenkrankheiten wie Alzheimer, Schizophrenie, nach einem Schlaganfall und Gehirnverletzungen gestört, so der Forscher. "Unsere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass Behandlungen, die bei solchen Gehirnstörungen das präzise Timing der Nervenaktivitäten wiederherstellen, auch die Gedächtnisfunktionen verbessern können", meint er.
(APA)

Nota. - Raum und Zeit sind "in Wahrheit" ein Kontinuum, nur unsere Vorstellung reißt sie auseinander. Und unsere Vorstellung ist nichts anderes als eine Anpassungsleistung an unsere Lebensbedingungen im Mesokosmos. Für uns wird ein Raum durch die Bewegung, die wir machen, um ihn zu durchlaufen. Zuerst bin ich hier, nachher bin ich dort. Ich kann mir den Raum nur als Weg vorstellen, aber an den Weg kann ich mich nur in der Zeit erinnern.
JE