Montag, 8. Juni 2015

"Bürgerwissenschaft"?

aus beta.nzz.ch, 30.5.2015, 05:30 Uhr

Wissensgesellschaft und «Bürgerwissenschaft»
Sind wir alle Experten?
Die Grenzlinie zwischen «Experten» und «Laien» scheint sich in der Wissensgesellschaft nicht mehr so scharf ziehen zu lassen wie einst. Manche reden sogar von «Citizen Science» – «Bürgerwissenschaft».

von Eduard Kaeser

In der Wissensgesellschaft wimmelt es nur so von Experten. Kein Politiker, kein Konzern, der auf lokaler oder globaler Bühne einen Part spielen möchte, kann heute noch auf das «Expertenurteil» verzichten. Das zieht sich mittlerweile bis in unseren Alltag hinein. Die Regale der Buchhandlungen biegen sich unter der Last der Ratgeber. Nun hat man schnell den paradoxen Eindruck, dass parallel zum Anschwellen der Expertenzahl das Vertrauen in die Leute vom Fach schwindet.

Ein Grund liegt darin, dass sich das Verhältnis des kritischen Bürgers zur Wissenschaft generell gewandelt hat. Lange Zeit war dieses Verhältnis geprägt von einem Idealbild des Wissenschafters auf erhöhtem Podest, der – eigentlich gar nicht von dieser Welt – uns sagt, wie die Welt wirklich beschaffen ist. Noch Einstein konnte seinesgleichen zu «Tempeldienern» der reinen Erkenntnissuche stilisieren. Uns Heutigen erscheint dieses Bild zunehmend als Augenwischerei, vielleicht aus enttäuschten Erwartungen an ein wissenschaftliches Ethos, das sich regelmässig diskreditiert sieht. Wir sind irritiert, wenn uns die eine Studie Kohlenhydrate empfiehlt, die andere davon abrät. Wir sind indigniert, wenn ein Mediziner wie Andrew Wakefield 1998 einen Zusammenhang zwischen Autismus und einem Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln konstruiert, nur um diesen Impfstoff im Auftrag einer Interessengruppe in Misskredit zu bringen.

Erfahrungen und Versuche

Der englische Wissenschaftssoziologe Harry Collins – ein Veteran der sogenannten «science wars» – hat kürzlich ein Büchlein mit dem Titel «Are we all scientific experts now?» veröffentlicht. Die Frage klingt wie das Symptom für ein Zeitalter des «Post-Expertismus». Der Ausdruck soll nicht suggerieren, dass der wissenschaftliche Experte abgedankt hätte, vielmehr andeuten, dass der einfache Gegensatz zwischen «Experten» und «Laien» einer graduellen Abstufung von Expertentum gewichen ist. Nichts exemplifiziert dies deutlicher als das Wissens-Jekami von Wikipedia.

Selbstverständlich zählt nach wie vor das Wort der wissenschaftlichen Autorität. Aber die Wissenschaft hat in der heutigen Gesellschaft den Status der Fast-Unantastbarkeit verloren, und das macht uns alle zu «Default-Experten», wie Collins dies nennt: «Default-Expertentum ist jenes Expertentum, das der Bürger zu besitzen verspürt, weil Wissenschaft und Technik fehlbar sind», schreibt er. Zu Default-Experten werden wir fallweise, etwa beim Arzt, wenn er eine falsche Diagnose stellt, ein Mittel verschreibt, das man nicht verträgt, oder eine Therapie anordnet, die nicht anschlägt. Dann – so sagt man auch – greifen wir zur Selbsthilfe. Wir beginnen uns selber genauer zu beobachten, werden sensibler für gewisse Körperzeichen.

Default-Expertentum ist Expertentum aus Reaktion. Aber wie steht es um das «echte» Expertentum? Existiert es, und worin besteht es? Die Frage öffnet ein weites Feld. Versuchen wir eine Antwort mit einer weichen Definition. Das lateinische Wort «expertus» meint «erfahren sein» oder auch «etwas versucht haben». Und genau hier können wir einhaken. Experten sind wir alle mehr oder weniger in dem Sinne, dass wir uns auf das Leben einlassen, dass wir uns an ihm versuchen, dass wir durch es belehrt werden. Das Sachwissen des Alltags, das daraus resultiert, nennen wir common sense: gesunden Menschenverstand, Vertrauen in die eigene Erfahrung und Urteilsfähigkeit, Know-how.

Dieser Common Sense sieht sich allerdings zunehmend abgewertet durch eine Tendenz des Delegierens, die uns auf weiten Gebieten die Handlungsträgerschaft und die Verantwortung entzieht und durch «Kompetenzen» ersetzt, die in Gestalt von Experten und Expertensystemen zur Verfügung stehen.

Es kommt durchaus vor, dass Laien auch im engeren, spezialisierten Sinne zu Experten werden. Chronischkranke können quasi zu Experten ihrer Krankheit werden, wie das Beispiel der Aids-Aktivisten in den USA zeigt. Aidskranke Homosexuelle in San Francisco sabotierten in den 1980er Jahren nicht nur die Doppelblindtests, in denen neue Medikamente erprobt werden sollten, sie zogen die traditionellen Testverfahren auch generell in Zweifel und rissen dadurch eine Debatte vom Zaun, in deren Verlauf die Behandelten und die Behandler zunehmend zu einer neuartigen Forschungsgemeinschaft verschmolzen. Es fand sozusagen eine «Expertifizierung» der Kranken statt.

Dies kann durchaus ein Modell abgeben für Kompetenzaneignungen auf anderen Feldern, etwa im Städtebau. Ein Beispiel liefert das Projekt «Stadt (er)finden» der Berliner Urbanistin Saskia Hebert: Die Ortsansässigen sind mit ihren Ortskenntnissen die Experten; sie wissen, wo ein Kiosk, ein Kinderspielplatz, ein Kino hingehört. Planer und Architekten dagegen fungieren als «Externe», die bei bestimmten Fragen beigezogen werden.

Immer wichtiger erscheint in einer zunehmend unübersichtlicheren Wissenslandschaft ein «Meta-Expertentum», wie Collins es nennt, das heisst, die Fähigkeit, zwischen echten und unechten, guten und schlechten Experten zu unterscheiden. Dazu ist kein qualifiziertes Fachwissen nötig, sondern ein Wissen davon, wie solches Wissen sich präsentiert. Als relativ unproblematisch erweist sich Meta-Expertentum etwa im Umgang mit technischen Geräten wie Computer oder Auto. Ich erkenne die Fachperson sehr schnell daran, dass sie den Druckertreiber wieder in Gang bringt oder eine gebrochene Nockenwelle repariert.

Solche einfachen Funktionskriterien gibt es in der Wissenschaft nicht. Das heisst nicht, dass die Entlarvung von Trickstern in diesem Bereich unmöglich wäre. Meta-Experten können wir werden, indem wir merken oder argwöhnen, dass etwas faul ist: Zum Beispiel präsentieren Forscher nur Material, das ihren Standpunkt stützt; oder Forscher sagen uns, ein bestimmter Zusammenhang sei kein Faktum, weil kein Konsens unter Experten herrsche. In solchen Fällen genügt eine Art von Whistleblower-Bereitschaft gegenüber der Forschungspraxis. Gerade der Wissenschaftsjournalismus sollte dieses Meta-Expertentum fördern und pflegen. Natürlich braucht es im wirklich «faulen» Fall noch spezialisierte Insider, die zum Beispiel zeigen, dass die statistischen Methoden eines Arztes nicht zu aussagekräftigen Resultaten führen; oder dass mit Hirn-Experimenten die Nichtexistenz des freien Willens nicht zu beweisen ist.

Vor fünfunddreissig Jahren sprach Ivan Illich von der «Entmündigung durch Experten». Er warnte vor der «behaglichen Gleichgültigkeit der Bürger, die sich als Klientel dieser Experten einer vielgestaltigen Sklaverei unterwerfen». Und er sah damals bereits eine Position zwischen Expertenhörigkeit und Expertenfeindschaft voraus, die er das «postprofessionelle Ethos» nannte. Man könnte sagen: Im Zeitalter des Post-Expertismus lässt sich ein neues altes Expertentum wiederbeleben oder wieder schätzen lernen. Wer zählt zu seinem Bekanntenkreis nicht Liebhaber und Kenner von Pilzen, Käfern, Lokalgeschichte, alternativen Energieformen oder extraterrestrischem Leben?

Ausgang aus der Unmündigkeit

Auch wenn Käuze und Spinner darunter sein mögen: Sie verkörpern Ressourcen für eine «Citizen Science» – wie es der Wissenschaftstheoretiker Peter Finke (in einem neuen Buch) mit einem im Angelsächsischen schon länger geläufigen Begriff nennt. Man sollte solche «Bürgerwissenschaft» weder als eine parawissenschaftliche Konkurrenz noch als eine billige Datenlieferantin für «Professional Science» verstehen. Ebenso wenig freilich sollte man sie als genuine und eigentliche Erkenntnissuche «von unten» verherrlichen, die ohne das «Korsett der Profis» auskomme, wie Finke dies ziemlich populistisch tut. Eher artikuliert sich hier ein Expertentum, das wir alle mehr oder weniger für uns reklamieren können und sollen: Experten des eigenen Lebens zu sein.

«Es ist so bequem, unmündig zu sein», schrieb Immanuel Kant über die Medizin: «Habe ich [. . .] einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdriessliche Geschäft schon für mich übernehmen.» In diesem Sinne stünde uns ein Ausgang aus der Unmündigkeit noch bevor.

Dr. Eduard Kaeser, ehemals Gymnasiallehrer für Physik und Philosophie, ist als freier Publizist tätig. Kürzlich ist im Rüegger-Verlag sein Essay-Band «Trost der Langeweile. Die Entdeckung menschlicher Lebensformen in digitalen Welten» erschienen.


Nota. - Und nun? Was lehrt uns das? Wissenschaft - und nichts anderes ist "Expertenwissen" - ist öffent- liches Wissen: allgemein überprüft und (einstweilen) allgemein gültig. Das kann sie nur sein, weil sie organisiert ist - in Hochschulen, Akademien, privaten Forschungsstätten, die untereinander in konkurrie- render Kommunikation stehen. Was immer dieser oder jene Citizen an Wissensstoff angesammelt haben mag - zur Geltung kommen kann es nur, wenn es organisiert wird. Aber zu berechtigter Geltung kann es nur kommen, wenn es öffentlich organisiert ist: Nur dann nämlich ist die Kritik allgemein und andauernd. Wenn es also Platz findet in... der Wissenschaft. 

Mehr als dass man den Experten gegenüber weniger leichtgläubig sein soll, kann ich dem Beitrag von E. Kaeser nicht entnehmen. Ich werd's beherzigen. Doch dass in medizinischen Dingen Ärzte sich besser auskennen als ich, hat sich schon oft bestätigt. Irren könne sie sich auch, aber begründet. Ich kann mich nur grundlos irren. 
JE


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