Montag, 16. Februar 2015

Parasiten als Schrittmacher.

SPAIN NATIONAL GEOGRAPHIC CHANNEL 'IN THE WOMB'

aus Die Presse, Wien,15. 2. 2015

Die Geburt der Geburt
Die Erfindung, die die Säugetiere erst groß gemacht hat, die der Plazenta, ist Parasiten im Genom zu verdanken, Retroviren. Die leisten auch sonst einiges.

von Jürgen Langenbach

„Do viruses make us smarter?“ So lockte gerade eine Pressemitteilung der Universität Lund, zwar mit Fragezeichen, aber doch mit dem Lärm, der auch auf dem Markt der Wissenschaft immer schriller tönt: Es geht um Ruhm und Ehre, um Geld selbstredend auch. So reibt man sich oft verdutzt die Augen, wenn man sich nach der Lektüre einer PR-Dichtung an jene der beworbenen Forschungsarbeit macht, in der aus Lund war von Intelligenz weder im Text noch im Titel die Rede, Letzterer lautete vielmehr: „TRIM28 represses Transcription of Endogenous Retroviruses in Neural Progenitor Cells“.

Das ist spannend genug: Viren sind die kleinsten Lebewesen, und man kann lang darüber streiten, ob sie wirklich Leben sind, sie können sich nicht aus eigener Kraft reproduzieren, das lassen sie ihre Wirte für sich tun. Kein Dissens herrscht hingegen darüber, dass Viren töten können, die Spanischen Grippe raffte 1918/19 20 Millionen dahin, an HIV haben sich bisher 60 Millionen infiziert, 30 Millionen sind tot. Das Muster ist immer das gleiche: Viren dringen in Zellen ein und lassen sich vermehren, dann töten sie die Zellen und attackieren die nächsten. Manche stoßen gar in den Zellkern vor, ins Genom, das sind Retroviren – HIV gehört dazu –, sie haben ihre Erbinformation in RNA gespeichert, und sie müssen diese, um sich ins Genom zu integrieren, in DNA umschreiben: mit Enzymen, reversen Transkriptasen.

Dann lassen Retroviren sich entweder vom Wirtsgenom vermehren und gehen an ihre tödliche Arbeit. Oder sie bleiben ganz unauffällig, wo sie sind – als endogene Retroviren (ERVs) –, über Millionen Jahre, das war die Überraschung, als zur Jahrtausendwende das Humangenom sequenziert wurde: Acht Prozent unseres Genoms sind ERVs, das ist viel, fast sechsmal so viel wie das, worauf die Genetik sich lang konzentriert hat: Gene, DNA-Sequenzen, die für die Produktion von Proteinen sorgen. Der ganze Rest sei Müll (Junk), vermutete man lang, aber die Natur leistet sich keinen Müll bzw. die Evolution schleppt keinen mit, es fanden sich Funktionen für die ERVs und anderen sog. Junk, physikalische – die Struktur der DNA stabilisierende –, biochemische: ERVs springen als Transposons im Genom herum und greifen in Genaktivitäten ein.

Das kann Fürchterliches anrichten, deshalb versucht das Genom, ERVs bzw. ihre Gene stillzustellen – etwa mit dem Protein TRIM28 –, es kann aber auch zum Guten geraten, staunenswerte Innovationen bringen. Beides war wohl so vor 100 Millionen Jahren, da muss es einen Ansturm von Retroviren gegeben haben, vor 50 Millionen Jahren wieder einen, vor 40 Millionen Jahren einen dritten. Das weiß man deshalb, weil die ins Genom integrierten ERVs nicht mutieren – sie sind lebende Fossilien – und man ihr Alter aus dem Stand der restlichen Mutationen des Genoms berechnen kann.

Mothers little helpers.

Vor etwa 100 Millionen Jahren also kam die erste große Fuhre. Und vor etwa 100 Millionen Jahren passierte noch etwas: Da wurden wir geboren, da entwickelten die Säuger das eigenartigste aller Organe, die Plazenta, sie gibt uns zunächst alles, aber bei der Geburt legen wir sie ab. Säugetiere waren zuvor schon da, aber die legten Eier wie die Schnabeltiere oder sie packten die Kleinen in Beutel außen am Körper. Dann kam die Revolution, die Embryonalentwicklung wurde in den Körper verlegt. Dass dabei ERVs halfen, wusste man schon, von ihnen stammt ein zentrales Protein der Plazenta, Syncytin. Aber nicht nur das: Nur mit ihrer Hilfe konnte der Generalumbau gelingen, auf einen Schlag und damit wider die Evolution, die für gewöhnlich gemächlich fortschreitet. Das hat sie auch bei den Ahnen der Plazentatiere getan: Bei denen lag irgendwann alles für die Plazenta Erforderliche bereit, aber zu anderen Zwecken und in anderen Organen. In denen waren Gene aktiv, die nun – von ERVs – für die Plazenta rekrutiert wurden, tausende, sie sorgten vor allem für die Kommunikation zwischen Müttern und Embryos, im Gegenzug wurden Gene, die bei der Produktion der Eierschalen mitgewirkt hatten, stillgestellt. Rekonstruiert hat das in breitem Genvergleich – Reptilien, Schnabel-, Beutel- und Säugetiere bis zu Menschen – eine Gruppe um Günther Wagner, einem österreichischen Biologen an der Yale University (Cell Reports, 29.1.): „Das gesamte Gen-Netzwerk wurde radikal umgestrickt“, erklärt Wagner, und sein Kollege Vincent Lynch (Chicago) ergänzt: „Die Evolution der Schwangerschaft haben wir Genom-Parasiten zu verdanken.“

Nicht nur die. Vor 50 Millionen Jahren kam wieder ein Schwung ERVs, zugleich erschienen die Primaten. Und vor 30 Millionen Jahren trennten sich die Feuchtnasenaffen (Lemuren etc.) von den Trockennasenaffen („echte Affen“), wieder war etwas ins Genom eingewandert, ein Virus diesmal, kein Retrovirus – Borna, als freies Virus macht es Pferde verrückt („hitzige Kopfkrankheit“), bei Menschen steht es im Verdacht, zu manischer Depression beizutragen –, es wurde von einem Retrovirus mit dessen reverser Transkriptase eingeschleust (Nature 463, S.84).

So dramatisch geht es nicht immer zu, dafür erkennt man immer mehr Aktivitäten von ERVs: Bruce Beutler (University of Texas) hat bemerkt, dass sie beim Immunsystem mitspielen, vermutlich auch bei Autoimmunkrankheiten (Science 346, S.1486). Und mit Nervenzellen haben sie auch zu tun, damit sind wir endlich bei der smarten Botschaft aus Lund: Neurogenetiker Johann Jakobsson hat an ganzen Mäusen und manchen ihrer Zellen TRIM28 – das Protein, das ERVs inaktiv macht – ausgeschaltet: In Vorläufern von Hirnzellen, und nur in ihnen, änderten sich Genaktivitäten. Und in ganzen Mäusen änderte sich das Verhalten, sie wurden hyperaktiv (Cell Reports, 6.1.). „Ich glaube, dass das zu neuen, aufregenden Studien von Krankheiten des Gehirns führen kann. Bisher schaut man da nur auf Gene“, schließt Jakobsson: „Nun öffnen wir einen viel breiteren Weg.“ Das ist wieder aus der Pressemitteilung, diesmal seriös.


Nota. - Es wurde auch schon vermutet, dass die geschlechtliche Fortpflanzung selbst - die Erfindung eines zweiten Geschlechts: der Männlichkeit - Folge eines Virenbefalls war.
JE

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