Montag, 15. Dezember 2014

Wissenschaft seit Aristoteles?


Rembrandt, Aristoteles und Homer
aus Der Standard, Wien, 10.12.2014

Aristoteles und die Wunderlampe
Der US-amerikanische Autor John Freely zeigt, wie das Wissen der Antike in den Akademien der islamischen Welt und den Klöstern des Mittelalters überdauerte
von Anja Sattelmacher

Die moderne Wissenschaft gilt als vergleichsweise junge Erfindung: Nach geläufiger Darstellung kam es durch Gelehrte wie Galileo Galilei, Francis Bacon oder René Descartes sowie durch die Gründung der ersten Akademien zu einer wissenschaftlichen Revolution, die sich im Wesentlichen im 17. Jahrhundert zutrug. Was aber war davor? Wurde da gar keine Forschung betrieben?
Einer, der diese geläufige Darstellung der Wissenschaftsgeschichte korrigieren möchte, ist der US-amerikanische Physiker und Autor John Freely. Der mittlerweile 88-Jährige, der zuletzt in Istanbul lehrte, ist auch durch Reisebücher und populärwissenschaftliche Darstellungen der Geschichte der Levante bekannt. Mit seinen beiden neuen Büchern will er hingegen Licht ins wissenschaftliche Dunkel des Mittelalters bringen und zeigen, dass die moderne Wissenschaft nicht erst mit Galilei begann.

Bereits Gelehrte wie Thomas von Aquin oder Nikolaus von Oresme hätten, so eine der Thesen von Freely, über beachtliches wissenschaftliches Wissen verfügt, den Umfang der Erde exakt vermessen oder genaue Angaben über Planetenumlaufbahnen machen können. In seinem jüngsten Werk Aristoteles in Oxford nimmt Freely den Leser mit auf eine Reise, die bei den Werken der Vorsokratiker beginnt und bei Isaac Newton und dem "Höhepunkt der wissenschaftlichen Revolution" im 17. Jahrhundert endet.


Dazwischen versucht der Autor, eine ununterbrochene Kette von Wissenschaftern zu rekonstruieren, die sich des Wissens der Antike bedienten und dieses weiterentwickelten. Wie schon im Vorgängerbuch Platon in Bagdad geht der Autor in seiner Erzählung chronologisch vor. Dabei beginnt er mit der Legende vom Brand der Bibliothek von Alexandria, in der die Erkenntnisse der griechischen Antike versammelt waren.

Freely nimmt diese Geschichte für bare Münze und erzählt, wie verlorengeglaubte Schriften durch arabischsprachige Gelehrte überliefert wurden. Dieses Wissen gelangte dann im Verlauf der arabischen Eroberung der Iberischen Halbinsel wieder zurück nach Europa und wurde dort vor allem mittels lateinischer Übersetzungen an Klosterschulen überliefert. Kopernikus, Galileo und Newton konnten somit auf einen reichen Schatz an wissenschaftlichen Erkenntnissen zurückgreifen, die seit dem europäischen Mittelalter mithilfe der Gelehrten aus der islamischen Welt verbreitet worden waren.

Während Freely in seinem neuen Aristoteles-Buch nur kursorisch auf die "Anschauungen der Araber" eingeht, beleuchtet er in Plato in Bagdad ausführlich die Schauplätze des Morgenlandes, an denen vor etwa 1000 Jahren ein reger wissenschaftlicher Austausch stattfand. Freely zeigt, wie es durch Handelsbeziehungen der Griechen mit den Ägyptern zu einem reichen Wissenstransfer kam und wie die Städte Bagdad, Istanbul und Samarkand zu wichtigen Orten wurden, an denen Gelehrte bahnbrechende neue Erkenntnisse in Geometrie, Astronomie, aber auch Medizin und Physik produzierten.

Wenngleich beide Bücher mit einem bemerkenswerten Detailreichtum sowie einer gut recherchierten Bibliografie aufwarten, ist eine solch ununterbrochene Kette von Geschehnissen und Personen nicht ganz plausibel: Zum Teil liegen enorme Zeitspannen zwischen den Gelehrten, die der Autor einer Epoche zuschreibt.

Beide Bücher Freelys lesen sich eher wie Nachschlagewerke oder ein Who's who der Wissenschaft und weniger wie historische Studien, die Neues zutage fördern. Insbesondere bei den Ausführungen zur islamischen Welt würde man sich zudem mehr Differenzierung wünschen. Etwas problematisch ist zudem, dass Freely sich als ein weiterer von vielen Autoren erweist, der die "moderne Wissenschaft" in Europa verankert sieht und mit einer eurozentrischen Brille auf den Rest der Welt schaut.

Die anschaulichen Beschreibungen komplexer naturwissenschaftlicher Phänomene und deren historische Einbettung machen beide Bände dennoch zu einer lohnenden Lektüre. 


Nota. - Dass "die moderne Wissenschaft in Europa verankert" ist, wäre ja gar nicht so falsch; nur lässt es sich nicht plausibel machen, wenn man unter Geschichte der Wissenschaft lediglich die Geschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen versteht - wie anscheinend sowohl der Autor als auch seine Rezensentin. Die Heilkunst der Ägypter, Griechen und Araber hatte schon eine Fülle medizinischer Kenntnisse hervorgebracht, ehe (eigentlich erst seit Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs) die Medizin zu einer Wissenschaft wurde. Wobei die systematische Vereinheitlichung der einzelnen Wissenselemente nichts anderes als die Verwissenschaftlichung des Wissens selber war!

Und die hat in der Tat mit Galileo begonnen.
JE


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