Samstag, 27. Dezember 2014

Günther Rühles Theatergeschichte, II. Teil.

Er spricht vom Theater, als gäbe es nichts Wichtigeres: Günther Rühle. aus nzz.ch, 27. 12. 2014

Parzival als Historiker
Nach dem ersten Teil seiner deutschen Theatergeschichte legt der neunzigjährige Günther Rühle jetzt den umfangreicheren zweiten vor. Er betrifft die Nachkriegsjahre. – Ein Besuch beim Autor.

von Peter Michalzik

Nach einem langen Gespräch, das sich leichtfüssig durch die Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte bewegt hatte, bleibt er stehen. Er steht im oberen Stockwerk seines Hauses vor einer Zeichnung, die eine junge Frau zeigt. Selbst in der Zeichnung sieht man, wie berückend sie gewesen sein muss. Er fragt, ob man wisse, wer sie sei, und erzählt eine Geschichte. Max Reinhardt, der grosse Theatermensch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte die Schauspielerin Tilla Durieux neben den Polizeichef von Berlin placiert, um ihm die Sinne zu verwirren. Er wollte ihn von einer zensurgefährdeten Aufführung ablenken. Das gelang über die gesamte Aufführungsdauer hinweg. Wenn Günther Rühle, ein Mann von neunzig Jahren, das vor dem Bild der Schauspielerin erzählt, wird deutlich, dass er noch mehr Spass an dieser Begebenheit als an der unwiderstehlichen Schönheit der Frau in seinem Haus hat.

Verlebendigung

Rühle ist Auratiker. In seiner Nähe meint man die Durieux zu spüren, die bezirzende Gegenwart einer längst Verstorbenen stellt sich ein. Wenn er erzählt, meint man in der Haut des Polizeichefs zu stecken und fühlt sich zu dieser Durieux hingezogen. Das ist es, was die besondere Qualität von Günther Rühles grosser Erzählung vom Theater ausmacht: Dank ihm wird Theater gegenwärtig und lebendig.

Kurz zuvor hat er von Gustaf Gründgens gesprochen, dem er in seinem neuen Buch nicht nur eines, sondern mehrere lebendige Denkmäler baut. Nein, er sei damals kein Fan von Gründgens gewesen, nein, er habe nur drei Aufführungen von ihm gesehen, nein, er habe nie mit ihm gesprochen. Dann erzählt er, dass er als junger Mann doch einmal im Theater neben ihm gesessen habe, einmal. «Dieser Mann hatte eine ungeheure Aura. Es war etwas um ihn herum. Wenn man das einmal gespürt hat, das hilft einem beim Schreiben.» Ja, sicher, wenn man Günther Rühle heisst. Rühle erzählt begeistert von dem grossen Schauspieler, er erzählt von einem Gründgens, der sich vor seinem geistigen Auge befindet. «Der Mann hatte eine so grossartige Stimme. Gründgens war vor allem Stimme. Diese Stimme, sie hat einen sofort geweckt.» Ja, genau, denkt man, warum war einem dieser Satz selbst nie eingefallen, so offensichtlich wahr ist er.

Als sei er selbst dabei gewesen, hiess es schon nach dem ersten Band seiner einzigartigen Theatergeschichte «Theater in Deutschland 1887–1945». Nun, nach dem zweiten Band, «Theater in Deutschland 1945–1966», muss man hinzufügen: Als wäre man selbst dabei gewesen. Wer dieses Buch liest, 1200 Seiten Text, keine einzige Abbildung, dazu 300 Seiten Anmerkungen, Zeittafel usw., wird sich oft dabei ertappen, dass er meint, zu wissen, wie es gewesen ist. Dieses Buch ist so geschrieben, als habe Günther Rühle, dieser alte, wache Mann, nicht ein Sachbuch vor Augen gehabt, sondern als habe er seine eigene Geschichte erzählen wollen.

Vielleicht ist das das Geheimnis dieses Theaterschriftstellers. Rühle begreift das Theater, als sei es sein Leben. So kann der Leser es selbst miterleben. Und es war ja auch sein Leben. Er hat es für sechzig Jahre beeinflusst, er hat als Theaterkritiker und als Theaterintendant gearbeitet. Er hat viele Bücher über das Theater geschrieben und herausgegeben, die Werke Alfred Kerrs und Marieluise Fleissers, eine Sammlung von Kritiken. Aber erst jetzt, mit dieser Theatergeschichte und ungebrochener Kraft, ist er endgültig einer der grössten Historiker geworden, die das Theater hatte.

Vom Westerwald nach Frankfurt

Rühle ist seit diesem Sommer neunzig Jahre alt. Er stammt aus dem Westerwald, wohin es einen Teil der preussischen Familie Rühle verschlagen hatte, er ist Nachfahre eines Freundes von Heinrich von Kleist, ist später in Bremen aufgewachsen. Aber schon immer scheint er in Frankfurt am Main gelebt zu haben, wo sein Vater, ein Wirtschaftsprüfer, ins Theater ging, wovon er dann dem Jungen auf dem Land berichtete.

1946 begann Rühle selbst, in Frankfurt zu studieren, wurde Journalist, erst bei der «Frankfurter Rundschau», dann bei der «Frankfurter Neuen Presse» und dann, als Theaterkritiker, bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», deren Feuilleton er zehn Jahre leitete. 1984 wurde er für fünf Jahre Intendant des Schauspiels in Frankfurt, bis heute unvergessen, indem er Einar Schleef den Weg bereitete und gleich zu Beginn den sogenannten Fassbinder-Skandal um das Stück «Der Müll, die Stadt und der Tod» durchstand.

Heute ist Rühle Ehrenpräsident der Akademie für Darstellende Kunst und bei zahlreichen Veranstaltungen durch dezidierte Stellungnahmen ein unübersehbarer Gast: Mit leicht gerötetem Kopf und fester Stimme sagt er Dinge, an denen man nur schwer vorbeikommt. Der Mann hat etwas von einem Monument, gemacht aus Jahrzehnten von Erfahrung und natürlicher Autorität. Wenn er spricht, scheint es kaum Widerspruch zu geben.

8. Mai 1945

Rühle beginnt sein Buch mit dem 8. Mai 1945, dem Kriegsende, dem Ende der Naziherrschaft, in einem Land, in dem sich niemand vorstellen kann, dass das Theater, unter anderem, je wieder das werden würde, was es gewesen ist. Theater ist für Rühle Teil der Gesellschaft, das macht seine Grösse und Bedeutung aus, und Gesellschaft war selten gründlicher zerstört als in Deutschland 1945.

Wenn nun die Geschichte doch wieder beginnt, erstaunlich schnell mancherorts, vergisst Rühle dieses Gefühl der Zerstörung nicht. Es grundiert sein Buch und geht in den vielen Ereignissen und zwischen den vielen Akteuren nicht verloren. Rühle beginnt das Buch nicht in Berlin, auch nicht in Zürich, wohin sich viele Emigranten gerettet hatten, auch nicht in den USA, wo noch mehr Emigranten waren, sondern in Moskau, im Hotel Lux. Auch das zeichnet sein Buch aus: Die Entwicklung in jenem Teil Deutschlands, der bald «der Osten» und «die DDR» heissen sollte, wird mit der gleichen Ernsthaftigkeit verfolgt. Die Legitimität der dortigen Entwicklung wird nicht bezweifelt.

Anfangs konzentriert sich noch alles auf Berlin, es geht um Maxim Vallentin, Gustav von Wangenheim, Gustaf Gründgens, Jürgen Fehling, Paul Wegener, den verschwunden geglaubten Gerhart Hauptmann und viele andere. Es geht bald um Carl Zuckmayer und Bertolt Brecht, der über Zürich und München sich schrittweise Berlin annäherte. Was wäre geschehen, die Frage scheint kurz auf, wenn Brecht in einer dieser beiden Städte geblieben wäre? Ein besonderer Reiz von Geschichtsschreibung.

Den Sog, den Berlin ausübte, verlor es bald, als sich das Theater über die gesamte Republik zu verteilen begann. Rühle erzählt von einem Land, das grösser ist als Deutschland. Wenn er von der Schweiz berichtet, dann trifft er sowohl die Rolle der Traditionsbewahrerin – mit Zürich als Sammelbecken der Emigranten und Remigranten, als Sprungbrett auf dem Weg nach Berlin, mit Brechts «Antigone» in Chur – als auch die spezielle Schweizer Sensibilität, die sich mit Frisch und Dürrenmatt schnell abzuzeichnen begann.

«Anfang im Ende» heisst der erste Teil des Buchs, «Jahre der Trennung» der zweite, «Im zermauerten Land» der dritte, der demnach 1961 beginnt. Rühle verfolgt nicht nur die politische, sondern auch die moralische Trennung der beiden Deutschlands Schritt für Schritt. Auch das macht sein Buch spannend. Damit stellt sich aber eine Frage. Warum hat der Autor es nicht 1961 enden lassen, als die Trennung perfekt, oder 1989, als die deutsche Nachkriegsgeschichte zu Ende war? Auch theaterhistorisch ist es nicht zwingend, dass der jetzt vorliegende Band mit Handkes «Publikumsbeschimpfung» und dem Frankfurter TAT ausklingt. Es hätte ebenso gut Peter Zadek sein können, mit dem das moderne Regietheater begann.

Es ist tatsächlich so, dass dieses Buch, das dicker ist als der erste Teil, obwohl jener eine fast dreimal so lange Zeitspanne umfasst, eine Fortsetzung finden soll: Der betagte Rühle plant den dritten Teil (1966–1989). Über sechs Jahre hat Rühle für den zweiten gesammelt und geschrieben. Noch einmal kann er sich vorstellen, eine solche Herkulesaufgabe auf sich zu nehmen. Aber schon jetzt hat er ganz allein geschafft, wozu die gesamte deutschsprachige Theaterwissenschaft nicht in der Lage ist (was aber ihre vornehmste Aufgabe wäre): die Geschichte des Theaters zu schreiben. Dieses Buch dürfte auf seinem Feld kaum noch einmal übertroffen werden. Rühle übersieht die Vergangenheit, er ordnet sie und stellt sie dar. Es ist der grösste Liebesdienst, den man dem Theater, diesem unspeicherbarsten aller Medien, erweisen kann.

Gründgens – wie ein Vermächtnis

Es finden sich zahlreiche Passagen, die eigenständiger Publikationen würdig wären. Der Weg Fritz Kortners, seine überragende Bedeutung für den Wiederanschluss des deutschen Theaters an seine Traditionen, wird herausgearbeitet. Wie die deutsche Erstaufführung (nach einer folgenlosen Zürcher Aufführung von 1944) von Sartres «Fliegen» den Nerv der Zeit berührte, zwischen französischer und deutscher Niederlage, wie das Stück die Ost-West-deutsche Situation auf den Punkt brachte, wie unterschiedliche Ästhetiken (von Gründgens in der Erst- und von Fehling in der bedrückenden Zweitaufführung) die Zeit und das Stück ganz unterschiedlich fassten, kommt einem so treffend beschrieben vor, dass man meint, anhand eines Stückes und auf zwölf Seiten Wesentliches über die gesamte Nachkriegsverfassung zu begreifen.

Am überragendsten aber ist Gustaf Gründgens beschrieben. Nie ist die Schärfe von Gründgens' klassisch-puristischem Naturell besser auf den Punkt gebracht worden. Allein dafür lohnt sich das Buch. Es gibt kaum einen grossen deutschsprachigen Theatermacher des 20. Jahrhunderts, der der Gegenwart ferner wäre als Gründgens. Hier ist die schillernde Erscheinung, wie im Brennglas, eingefangen. Es ist wie ein Vermächtnis.

Wahrscheinlich hat das Pathos, das darin steckt, etwas mit dem Entstehen und der Wucht dieses Buches zu tun. Rühles Theatergeschichte ist vor dem Hintergrund des Verschwindens entstanden. Aus seiner Sicht verschwindet das Theater, jenes Theater, das vor 250 Jahren mit Lessing entstanden war, das eine republikanische und moralische gesellschaftliche Institution war, das die Zeit spiegelte, befragte, kritisierte und veränderte, eine Schule der Sitten und des gesellschaftlichen Bewusstseins. «Erst beim Schreiben», sagt Rühle, «wurde mir bewusst, wie viel das Theater zur Wiederherstellung der Demokratie geleistet hat.» Es gibt ein kleines Kapitel «Die Erweiterung des Bewusstseins», das zusammenfasst, was das Theater an Neuem aufzunehmen in der Lage war. Und umgekehrt: «Sie können schon am Theater der sechziger Jahre ablesen, an seiner Verengung, warum die DDR später kaputt gegangen ist.»

Lessings Trias

Und so sitzt dieser wache, alte Mann in seinem Haus vor Frankfurt, an den sanft ansteigenden Hängen des Vordertaunus, und sagt Sätze, die in den Ohren klingeln. Er spricht vom Ende des Theaters, als sei es ausgemachte Sache. Er spricht vom Theater, als gäbe es nichts Wichtigeres. Er tut es mit glühendem Ernst. Er spricht von einem Theater, das als einzige Kunst nicht aus sich, sondern aus Gesellschaft entsteht. In der Wucht der Sätze liegt Rühles Theatralität. Aber es ist nun einmal seine Welt, die da untergeht, und ihm ist aufgegeben, sie zu retten, wenigstens zwischen zwei Buchdeckel.

«Das Programm des Humanismus im Theater ist verbraucht. Die Emanzipation, die Überwindung des Vorurteils, die Vernunft, diese Trias Lessings ist aufgebraucht. Wir leben in einer Gesellschaft, die das verwirklicht hat, was Lessing gewollt hat. Deswegen torkelt das Theater so und muss sich eine neue Szene suchen. Der Spieltrieb ist da, aber einen Gegner bekommt im Theater zur Zeit niemand zu fassen.»

«Sie sind der letzte Parzival des deutschen Theaters», soll Heiner Müller einmal zu Rühle gesagt haben. Jetzt ist dieser Parzival Historiker und vereinbart dabei Dinge, die nicht zu vereinbaren sind. Ein sicheres Urteil kann man als Kritiker erlernen. Anschauliches Schreiben lernt der Journalist. Aber die Akribie, die Systematik, die Disziplin und die Selbstlosigkeit, die zum Schreiben eines solchen Buches notwendig sind, lernt man nirgends.

Da muss man auch noch ein preussischer Charakter sein.

Günther Rühle: Theater in Deutschland 1945–1966. Seine Ereignisse – seine Menschen. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2014. 1520 S., Fr. 61.90.


Nota. - Weniger als irgendeine andere Kunstform, weniger noch als der Roman, kann man das Theater ohne Bezug auf das Zeitgeschehen betrachten, ganz recht: Denn wenn es sich selber jeden Bezug versagt, so kommt gerade das "zur Sprache", nämlich auf der Bühne, d. h. spätestens in der Pause. Theater ist von vorherein öffentlich, nicht erst seine Rezension. 

An seinem Zustand könne man den Zustand einer Gesellschaft ablesen? Es sei eine Welt, die untergeht? Geht sie unter, weil das Regietheater die Autoren verschreckt? Die schaupielerischen Talente erstickt? An die Stelle gesellschaftlicher Fragen - man mag es kaum aussprechen - private Geltungsprobleme rückt?

Vielleicht kommt das ja im 3. Band, man wünsche ihm ein langes Leben.
JE
 

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