Samstag, 6. Dezember 2014

Glauben oder wissen.


aus nzz.ch, 6.12.2014, 05:30 Uhr

Wissen und Glauben
Über das Göttliche und den Sinns des Sinns
Kann es unter den Bedingungen der modernen Existenz eine rationale Theologie geben? Es spricht manches dafür – nicht zuletzt die Rolle, die der Sinn für das Dasein des Menschen in der Welt spielt: für das bewusste Leben im Horizont eines Ganzen, das nicht gewusst, sondern nur erschlossen werden kann.

von Volker Gerhardt

Die Kritik am Glauben lebt aus der Überzeugung, dass Glauben und Wissen Gegensätze sind. Das mag in einzelnen Fällen so sein: Die biblische Schöpfungsgeschichte ist mit dem, was die moderne Wissenschaft über den Urknall spekuliert, nicht ohne weiteres vereinbar. Das Gleiche gilt von dem, was uns die Evolutionstheorie zu denken gibt. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, dass dort, wo einer zu wissen glaubt, gar kein Glaube mehr nötig sei. Im Gegenteil: Man muss bereits an das Wissen glauben, wenn man sich ihm anvertraut. Und dort, wo es endet, sind wir augenblicklich auf den Glauben angewiesen. Das beginnt mit unseren Plänen für den nächsten Tag und setzt sich in allen Erwartungen fort, die wir an unser Leben, die Politik, die Kultur oder die Zukunft überhaupt stellen. Also darf, ja muss man sagen, dass Wissen und Glauben einander nicht ausschliessen, sondern im Gegenteil wechselseitig fordern.

Die Brücke zwischen Mensch und Welt

Dafür spricht auch ihre logische Struktur: Beide sind auf Sachverhalte bezogen. Sie meinen etwas, das sich nach Art eines Gegenstands oder eines Ereignisses beschreiben lässt. Deshalb sind sowohl das Wissen wie auch der religiöse Glauben mit Lehren, mit Theorien oder Dogmen, verbunden, von deren Richtigkeit diejenigen überzeugt sind, die sich auf sie berufen. Damit beanspruchen sie eine Bedeutung – und mit ihr einen Sinn, in dem sich die Empfindung, das Gefühl oder die Einsicht eines Menschen mit etwas verbindet, das zur Welt gehört.

Der Sinn ist die Brücke zwischen dem Organismus und seiner Umgebung, die im Menschen bis zur Höhe seines Bewusstseins ausgebaut ist und somit erst hier den Begriff der Welt zur Entfaltung bringt. Wer ohne Sinn lebt, ist bewusstlos und hat somit auch keine Welt. Während man das Leben als die externe Bedingung des Sinns bezeichnen kann, ist Erleben die interne Sinnkondition überhaupt. Damit gibt es eine ausser Zweifel stehende Bedingung des Sinns – nämlich die des sich erlebenden Lebens. Aber es gibt auch eine in der Eigenlogik des Sinns liegende Bedingung seiner selbst, sei er empfunden, gefühlt, sicher gewusst, erahnt oder ersehnt: Er muss sich auf die bedeutungsvolle Einheit eines Reizes beziehen, der auch für die Einheit des erlebenden Individuums von Bedeutung ist. In dieser Entsprechung der Ganzheit eines rezipierten Sachverhalts und der Ganzheit der dadurch aktivierten Person liegt der schliesslich auch theologisch relevante Tatbestand.

Denn man kann zeigen, dass jeder bestimmte Sinn in ein Ganzes eingebunden ist, das in seiner Totalität zwar erlebt und begrifflich erschlossen, aber nicht leibhaftig erfahren, nicht bearbeitet und schon gar nicht allein nach den Regeln des Verstandes ausgelegt werden kann. Es lässt sich in seiner umfassenden Anwesenheit im Verfahren der begrifflichen Erschliessung zwar anschaulich machen; aber es kann kein Gegenstand des Wissens sein. Seine Bedeutung kann nur geglaubt werden.

Eine Formel

Der Begriff der Welt schliesst alles ein, was nicht nur in ihrer physischen und sozialen, sondern auch in ihrer intelligiblen Verfassung Bedeutung haben kann. In dieser Gesamtheit ist sie unvorstellbar gross, umfassend und unergründlich tief. Und da sie stets nur in der Dimension des Sinns vorgestellt werden kann, steht ausser Zweifel, dass jede für den Sinn empfängliche Instanz zur Welt hinzugehört. So kommt es zur tautologisch erscheinenden, in Wahrheit aber transzendentalen, d. h. grundlegenden Rede vom «Sinn des Sinns». Die Formel bringt die interne Fundierung des Sinns durch das erlebende Bewusstsein einerseits und durch das in seine Umwelten eingelassene Leben anderseits zum Ausdruck. Damit kann sie den philosophischen Vorwurf, «bloss» idealistisch zu sein, abwehren. Sie hat zwar, wie alles Erkennen, Wissen und Glauben, ihren Ursprung im Menschen. Doch in ihrer Fundierung durch den Sinn hat sie eine ganz und gar weltliche Ausrichtung. Die Formel vom Sinn des Sinns zielt auf den Grund, den die Bedeutung des Ganzen für den Menschen hat.

Dabei sollte die Frage, ob dieser Grund auch theologisches Gewicht haben kann, nicht strittig sein. Zwar bewegt sich der Versuch, das Ganze des Daseins in seiner Bedeutung für den Menschen zu erfassen, innerhalb der Grenzen einer die Einheit des Ganzen erschliessenden Vernunft. Aber wenn es dabei um die Bedeutung geht, die diese gedachte Einheit für den Menschen hat, kann sie die nur im Glauben finden. Dann wird das Ganze nicht nur als alles einschliessend und über alles verfügend gedacht, sondern es wird in seiner alle Begriffe sprengenden Unendlichkeit (die dennoch Raum für das endliche Dasein des Menschen lässt) als erhaben vorgestellt. Man kann es nur fürchten, bestaunen und bewundern, weil es in der Unfassbarkeit seines Sinns gleichwohl die Vielfalt des Sinns ermöglicht, in dem sich die Welt erleben und deuten lässt. Dann wird der Sinn des Sinns als göttlich vorgestellt.

Mit dem Versuch, sich dem Ganzen einer allen Sinn tragenden Einheit des Sinns zu nähern, ist das Göttliche in die Perspektive einer rationalen Theologie gerückt. Die Annäherung erfolgt durch die im Wissen vollzogene, aber durch das Gefühl motivierte Bemühung um ein das denkende und fühlende Individuum in seiner Eigenständigkeit einschliessendes Ganzes, in dem der Mensch zu sich selbst finden kann. Im Frieden mit sich selbst sucht er zugleich das Einverständnis mit dem Ganzen.

Bereits in der Annäherung ist klar, dass man sich hier auf etwas zubewegt, für das es keinen gegenständlichen Sinngehalt geben kann – ausser eben den, dass etwas unüberbietbar Bedeutungsvolles gegenwärtig wird, das als universelle Sinnbedingung für sich selbst mit keiner partikularen Bedeutung verknüpft sein kann. Man kann nur sagen, dass eine alles Dasein und alles Verstehen ermöglichende Einheit avisiert ist, die allem, was ist, Bedeutung verleiht, einschliesslich des nach Sinn suchenden Individuums. Mit dieser Erläuterung dürfte erkennbar sein, dass der Verweis auf das Gefühl des Erhabenen nicht so verstanden werden darf, als sei es nur ein ästhetisches Moment, das uns für das Göttliche einnimmt. Entscheidend ist vielmehr ein durch und durch Rationales, das dem Göttlichen seine Stellung gibt: Es ist die begrifflich benötigte Einheit, die jeden von uns, sofern er überhaupt nur etwas versteht, auf eine Einheit mit den erkannten Dingen dieser Welt sowie eben darin auch mit seinesgleichen verpflichtet. Es gibt eine von keinem Menschen gemachte, ja von keinem auch nur zu wollende (oder gar: nicht zu wollende) logische Einheit der Welt, in der wir alles in allem, einschliesslich unserer selbst, verstehen.

Diese Einheit brauchen wir, um «ich» oder «du» oder «wir» zu sagen. Wir legen sie zugrunde, wenn wir von Unterschieden oder Gegensätzen, von Vielheit oder Bewegung sprechen, oder wenn von Welt oder All die Rede ist. Ja selbst wenn von nichts – gar vom «Nichts» – gesprochen wird, ist dabei ein Etwas, ein Sein oder ein Ganzes unterstellt, in dem wir selber als jeweils ganze Personen sind.

Und dies ist das Ganze, das allem Wissen und allem Glauben zugrunde liegt. Es hat die alles umfassende Stellung, die dem Göttlichen in allen philosophischen Theologien zugestanden und die ihm vermutlich von keiner Religion, noch nicht einmal vom Buddhismus oder Taoismus, abgesprochen wird. Es ist dies ein Begriff von einem Ganzen, der so evident ist, dass man gar nicht versteht, warum es keine Existenz haben sollte, erst recht keine, die man nicht beweisen können soll. Doch der Grund für die Unbeweisbarkeit des so verstanden Göttlichen ist offenkundig: Was den Grund für jedes Denken und Sprechen legt, ist zugleich die Bedingung eines jeden möglichen Beweises und kann folglich nicht in einem Einzelbeweis bewiesen werden. Deshalb kann man dem Göttlichen auch nicht mit der Zumutung begegnen, etwas Bestimmtes innerhalb oder gar ausserhalb der Welt zu sein.

Der personale Gott

Es müsste einiges mehr gesagt werden, um das Theologische des Glaubens an dieses alle Bedeutung tragende und jeden Sinn einbindende Ganze einsichtig zu machen. Die auf den Mensch und Welt verbindenden Sinn gegründete These vermeidet die Vergegenständlichung Gottes, holt das Göttliche aus dem Niemandsland der Transzendenz und sucht es als das Ganze der Welt in Tateinheit mit dem Ganzen des gläubigen Individuums zu denken. So viel Gefühl und Wissen, so viel Sinnlichkeit und Weltgehalt, so viel Individualität und Universalität in diese rationale Annäherung an das Göttliche auch eingehen mag, so blass muss das Erreichte jenen erscheinen, die nach der lebendigen Gegenwart eines Gottes suchen. Wer hier enttäuscht ist, sollte nicht die Philosophen schmähen, sondern das auf ältesten Einsichten beruhende Wort der Theologen bedenken, dass selbst ihre Wissenschaft über ein «analoges» Denken und Sprechen über Gott nicht hinauskommt.

Der Nachweis, dass der Begriff des als göttlich angesehenen Einen und Ganzen notwendig alles trägt, was für den Menschen überhaupt semantisch und logisch von Bedeutung ist, ist das Äusserste, was mit philosophischen Argumenten zu erreichen ist. Umso wichtiger dürfte der Hinweis sein, wie nahe der Aufweis eines einheitlichen Bedeutungsgrundes, eines Sinns in allem Sinn und somit eines Sinns des Sinns überhaupt, den sogenannten Gottesbeweisen steht, mit denen die Philosophie vor Kant noch gearbeitet hat. Tatsächlich hat das Argument für die Unerlässlichkeit eines einheitlichen Bedeutungsgrunds allen Sinns sowohl in seiner logischen Anlage wie auch in seiner universellen Reichweite Ähnlichkeit mit dem ontologischen Gottesbeweis. Wem er genügt, der mag daraus auch die Gewissheit für seinen Glauben an ein Göttliches ziehen. In seiner logisch-semantischen Produktivität wird das Göttliche als Generator allen Sinns, somit als «Schöpfer» gedacht.

Mit dem solcherart erwiesenen Göttlichen wäre der Mensch der formalen Denkfigur eines «Schöpfers aller Dinge» bereits sehr nahe. Doch die lebendige Gegenwart eines personal verfassten Gottes wäre damit nicht erreicht. Hier liegt eine definitive Grenze der Philosophie. Wer glaubt, einen Gott zu benötigen, der zu ihm aus dem Dornbusch spricht, der ihm Gesetze gibt und Gebote erteilt, einen Gott, der so geduldig ist, sich Gebete anzuhören und Bitten zu erfüllen, und der wie ein strenger, gütiger Vater angesprochen werden kann, der muss sich der Religion anvertrauen, die ihm menschlich nahesteht. Die rationale Theologie kann dazu nur sagen, dass sie keine prinzipiellen Einwände gegen einen solchen persönlich angelegten Glauben geltend machen kann. Sie kann sogar dartun, dass der von ihr explizierte Selbstbegriff des Menschen unvollständig bleibt, solange er nicht in einer Welt zur Geltung kommt, die Bedeutung für den Menschen hat. Sie kann herausarbeiten, dass es dazu einer immer auch existenziellen Beziehung zwischen Mensch und Welt bedarf, in der die Dimension des Ganzen alles Einzelne als gleichermassen nichtig erscheinen lässt, aber gleichwohl als Herausforderung erfahren werden kann.

Die Philosophie vermag sogar so weit zu gehen, eine begriffliche Korrespondenz zwischen der Unbegreiflichkeit der Welt auf der einen und der Abgründigkeit der Person auf der anderen Seite zu exponieren. Da es dem Menschen gelingt, die Unfassbarkeit seiner selbst in einen ihn selbst leitenden Begriff, nämlich in den der Person, zu transformieren, kann sie selbst grösstes Verständnis dafür haben, dass der Mensch die von ihm benötigte Einheit der Welt mit dem Begriff der Person als analog versteht. Im praktizierten Bewusstsein des Glaubens nimmt die Person die Welt auch von innen her an, um mit sich und mit ihr einig zu sein. Gott ist dann die personal verstandene Einheit, in der das Ganze der Welt und das Ganze der Person einander wechselseitig bedingen.

Volker Gerhardt ist emeritierter Professor für Praktische Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Unlängst ist sein Buch «Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche» (bei C. H. Beck) erschienen



Nota. - Über solch prätentiösen Mist kann ich mich aufregen. Ob es eine rationale Theologie geben kann, ist eine - na, sagen wir mal: nicht so vordringliche Frage. Ihr mag man sich zuwenden, wenn man die durchaus vordringliche Frage beantwortet hat, ob es eine rationale Philosophie geben kann. Die Frage ist freilich soweit geklärt, als es eine solche ja gibt; ich meine eine, die nicht auf dem (einen oder andern) Glauben beruht, sondern vom Wissen ausgehend im Wissen verbleibt. Das ist die Kritische alias Transzen- dentalphilosophie. Sie handelt nicht von Gott und der Welt - dazu müsste sie nämlich allerhand glauben -, sondern von unseren Vorstellungen von Gott und der Welt, denn die allein sind uns bekannt. 

Diese Unterscheidung - zwischen den Dingen selbst und dem, was wir uns darunter vorstellen - ist für die exakten Wissenschaften (in denen zum Beispiel der erwähnte Urknall vorkommt) ohne Belang: Sofern und solange sie diese ihre Vorstellung mit ihren andern Vorstellungen (immer wieder aufs Neue) in Einklang bringen kann, hat sie ihr Geschäft besorgt. 

Wieweit die Gesamtheit ihrer Vorstellungen mit der Gesamtheit der vorgefundenen - na, nennen wir's ruhig: Welt übereinstimmt, ist keine Frage des theoretischen Glaubens, sondern der pragmatischen, denkpraktischen Bewährung. Solange die neugewonnenen Vorstellungen sich ins vorhandene Gebäude (alias "Standardmodell") einfügen lassen, ohne dass dadurch immer neue unprüfbare Zusatzannahmen notwendig würden, tut es seine Dienste und darf weiterhin als "einstweilen endgültig" angenommen werden. Bis eines Tages ein Modell in Vorschlag gebracht wird, das alles Bekannte und vieles Neue einfacher darstellen kann. Auch an dieses muss niemand glauben, es wird reichen, wenn es sich denkpraktisch bewährt.

Mit der rationalen Philosophie ist es was Anderes. Die Prätention, die Vorstellungsgebäude der exakten Wissenschaften einem Wahrheitsurteil zu unterziehen, hat sie mit Kants kritischer Wendung abgelegt. Für die realen Wissenschaften ist sie eine kritische Instanz, die lediglich, aber immerhin über die immanente Konsistenz der theoretischen Modelle mitzureden hat, und nicht über ihre metaphysische Endgültigkeit. 

Doch auch gegenüber den Sinnsuchern und Sinnerfindern ist sie kritische Instanz. Sie ist nicht Fleisch von ihrem Fleisch, sie reden nicht von Gleich zu Gleich; "auf Augenhöhe", wie der Flachmann sagt. Ihnen allen sagt sie, ohne Ausnahme: Tut nicht so, als hättet ihr für eure Sinnbehauptungen belastbare Gründe. Ihr habt Motive, und die hat jeder. Dass eure Motive besser sind als die der andern, muss sich zeigen. Wenn ihr sie stattdessen unter vorgeschützten Gründen versteckt, von denen man nichts wissen und die man nur glauben kann, werden sie es nötig haben. Wir jedenfalls können vor euch nur warnen.
JE

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