Montag, 10. November 2014

Pythagoras war nicht an allem schuld.

In der «Theoria Musicae» (Venedig 1492) tritt Pythagoras als Harmonielehrer in Aktion.
aus nzz.ch, 30.10.2014, 05:30 Uhr                            In der «Theoria Musicae» (Venedig 1492) lehrt Pythagoras Harmonie

Pythagoras und die Disharmonie der Welt
Aus dem Lande der Legenden

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Pythagoras, der sagenumwobene Philosoph aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert, habe eines Tages erstaunt vor einer Schmiede innegehalten und mit steigender Erregung dem Lärm eifrigen Gehämmers gelauscht, so die Legende. Er habe nämlich gehört, «wie aus den verschiedenen Tönen bloss eine einzige Harmonie hervortönte». Was verursachte diese Harmonie? Pythagoras untersuchte die Form der Hämmer und liess die Schmiede ihre Hämmer tauschen, doch der gefällige Mehrklang blieb unverändert. Die Harmonie musste somit in den Hämmern selbst liegen. Seine Suche nach der Ursache des Wohlklangs führte Pythagoras zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die Gewichte der Hämmer standen in einem präzisen numerischen Verhältnis zueinander, nämlich zwei zu eins für die Oktave, drei zu zwei für die Quinte; und vier zu drei für die Quart.

Harmonische Verhältnisse

Dass diese Geschichte eine blosse Legende ist, ist auch daraus ersichtlich, dass das erwähnte Verhältnis zwischen Hammergewicht und Tonhöhe empirisch-physikalisch nicht stimmt. Laut der Erzählung fand Pythagoras bald ähnliche Verhältnisse bei Saiten, welche – durch verschiedene Gewichte gespannt oder aber bei gleicher Spannung passend gekürzt – dieselben harmonischen Verhältnisse aufwiesen. Mit dieser – dieses Mal richtigen – Entdeckung war eine mathematische Harmonielehre geboren, die als «Musica» noch bis in die frühe Neuzeit auf mathematischer Basis als eine der sieben freien Künste an allen höheren Schulen gelehrt werden sollte. Sie begründete zugleich eine Weltsicht, in der alles Gute und Schöne – alles Harmonische also – das Ergebnis mathematischer Proportionen sein musste. Noch im 18. Jahrhunderte bemerkte Immanuel Kant bewundernd, dass Pythagoras mit dieser Idee «ein Projekt entwarf und zustande brachte, das seinesgleichen noch nie gehabt hatte».

Spätere Versionen dieser legendären Heureka-Szene bei der Schmiede sprechen von fünf Hämmern, die Pythagoras gehört haben soll, wovon einer allerdings lautlich nicht zu den anderen passte. Dieser fünfte Hammer, so erzählt beispielsweise Boethius etwa tausend Jahre später, «wurde verworfen, welcher allen inconsonierend war». Daniel Heller-Roazen hat diesem angeblich aus den Annalen der Geschichte verbannten fünften Hammer ein Buch gewidmet, sozusagen zur Rehabilitation dieses Störenfrieds. Dieses «Sein ohne Mass», zu dessen Symbol Heller-Roazen den fünften Hammer hochstilisiert, habe die wissenschaftlichen und philosophischen Systeme wie ein dunkler Schatten bis in die Moderne verfolgt. Alles, was nicht in saubere Proportionen habe gebracht werden können, sei als irrational, disproportional oder unsagbar verworfen oder, im besten Fall – nämlich bei Kant –, zur Basis der Kategorie des Sublimen erklärt worden.

Der Autor, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Princeton, hätte ein wuchtiges Thema gefunden, wenn die pythagoräische Zahlenlehre in der von ihm behaupteten Ausschliesslichkeit tatsächlich bis in die Neuzeit hinein das Denken über Mass, Zahl und Sein dominiert hätte. Denn es ist wahr, dass für einen strikt pythagoräischen Arithmetiker (wie dies beispielsweise Giordano Bruno gewesen ist) die Eins keine Zahl, sondern die allerletzte Grundeinheit ist, die nicht weiter geteilt werden kann. In dieser Perspektive werden Brüche unmöglich und ist die Welt generell durch Missverhältnisse geprägt. Doch erstens waren nicht alle Arithmetiker Pythagoräer, zweitens ist Pythagoras (wie das nach ihm benannte Theorem beweist) ja auch als Stifter der Geometrie ins europäische Schulprogramm eingegangen, und überhaupt waren Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit viel uneinheitlicher, als Heller-Roazen lieb ist. So hatte Pythagoras zwar bis ins 17. Jahrhundert einen festen Platz in den propädeutischen freien Künsten der europäischen Universitäten. Doch im darauffolgenden Philosophieunterricht, zu dem auch die Unterweisung in Naturphilosophie gehörte, herrschte die Ansicht des Aristoteles vor, mathematische Grössen seien keineswegs Archetypen, sondern blosse Abstraktionen physikalischer Vorgänge.

In der Tonlage des Entdeckers

Heller-Roazen irrt aber nicht bloss in der Rückschau; seine Thesen zur Gegenwart sind genauso fragwürdig. Die Behauptung, «das homogene Universum der modernen Wissenschaft» lasse keine «Entität» mehr zu, die «mit einer Zahl oder einem Zahlenverhältnis gleichgesetzt werden» könne, ist irrig, denn was anderes sind die Naturkonstanten als genau solche Entitäten? – Der Autor beginnt seine Geschichte schwungvoll und in der Tonlage des erregten Entdeckers. Acht Lektionen will er uns erteilen; und damit dem Leser die Zahlensymbolik seiner Kapiteleinteilung nicht entgeht, stellt er dem Buch eine Definition der Oktave voran. Dass diese von Jean-Jacques Rousseau stammt, soll ihr die Banalität nehmen.

Doch irgendwann, zwischen Kepler und Kant, verzweifelt der Autor ob der Anstrengung seines Versuchs, die ganze Geschichte menschlichen Irrens aus Pythagoras' angeblicher Verleugnung des fünften Hammers abzuleiten. Das zirpende Vibrato seiner ersten Kapitel geht über in ein Glissando und endet in einem dumpfen Murmeln. Irgendwann hört das Buch auf.

Daniel Heller-Roazen: Der fünfte Hammer. Pythagoras und die Disharmonie der Welt. Aus dem Englischen von Horst Brühmann. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 256 S., Fr. 34.90.

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