Dienstag, 14. Oktober 2014

Der Humbug des Rankings.

Ranglisten sind bestechend, weil es so einfach ist, an sie zu glauben. Aber mitunter verzerren sie die Wirklichkeit.
aus nzz.ch, 13.10.2014, 05:30 Uhr

Listen und Rankings
Miese Zahlenspiele



Die angenehmste Stadt, die beste Universität, der einflussreichste Politiker: Für alles und jedes gibt es hierarchische Ranglisten. Sie verzerren die Wirklichkeit nicht nur, sie formen sie nach ihren simplen Kriterien um.

Nicht jedes Ranking ist ein Reinfall. Fussballtabellen zum Beispiel studiert der Fan mit Gewinn: Woche für Woche verfolgt er obsessiv die Fort- oder Rückschritte seines Teams, indem er die Anzahl Punkte, Spiele und Tore aller Konkurrenten vergleicht. Die Rangliste bildet einen Wettbewerb ab, der strikten Regeln gehorcht. Ganz gerecht ist dieses Spiel nicht. Nicht nur das Glück, sondern auch das Geld ist unter den Mitspielern ungleich verteilt. Kindern sind Ranglisten ein Reich der Lust. Im Freundschaftsalbum durften Favoriten noch und noch gekürt werden. Die Lieblingsspeisen? Mit der Niederschrift waren sie zum Greifen nah, erstens Pommes frites, zweitens Pizza, drittens Cheeseburger. Unverrückbar die Rangfolge der besten Musikbands und schönsten Farben. Darüber gab's nichts zu diskutieren. Das Kind ordnet die Welt, wie sie ihm gefällt.

Wer ist der Beste?

Rankings funktionieren nur in Parallelwelten, in denen Sonderregeln gelten, die eines Spiels oder eines egomanischen Universums. Sie ordnen Menschen und Dinge metrisch zu einer hierarchischen Reihenfolge, wobei die Abstände zwischen den Rängen identisch sind. Rankings ermöglichen den unmittelbaren Vergleich von mehr oder weniger Unvergleichbarem, indem sie ihre Objekte vom konkreten Kontext isolieren und in Zahlenwerte transformieren.

Diese Ordnung hat mit der Realität nicht viel gemein. Der Fussballfreund ahnt es, wenn er sich der Erwerbsarbeit zuwenden muss, und das Kind auch, das vor dem Gemüseteller sitzt – oder wenn es älter und reifer wird. Bloss der Wissenschaftsbetrieb scheint von dieser Inkongruenz nichts zu wissen und auch die Unternehmensberatungen, Marketingleute, Sozialtechnologen und Medienunternehmen nicht, die aus der Welt eine Bestenliste machen, auf dass sich die Welt dieser Liste angleiche.

Gibt es noch Sachen, die nicht gerankt sind? Ranglisten von Konsumgütern leuchten halbwegs ein: Man kann versuchen, im Interesse des Käufers das beste, langlebigste, günstigste, umweltfreundlichste Staubsaugermodell zu bestimmen. Auch solche Ranglisten sind indes willkürlich. Man braucht bloss eine Variable zu ändern – die schwierig messbare Umweltfreundlichkeit oder das ebenfalls nicht einfach zu bewertende Design –, man muss nur die zweite Stelle nach dem Komma in die Auswertung einbeziehen, statt sie zu runden, und schon sieht die Liste anders aus.

Die Rankings von wissenschaftlichen Zeitschriften (die wissenschaftlichsten), Politikern (die mächtigsten) und Ökonomen (die einflussreichsten), von Nationen (die transparentesten), Hochschulen (die besten) und Städten (die sichersten) jedoch sind schlicht absurd. Ihr Aussagewert ist gleich null. Von den undurchsichtigen Zahlenspielen profitieren einzig ihre Produzenten und die beteiligten Medien, welche die Ergebnisse als «Primeurs» veröffentlichen. Wahrscheinlich profitieren auf die Dauer nicht einmal die Sieger, weil sie sich den Zwängen, denen sie unterworfen worden sind, weiterhin fügen müssen, wenn sie oben bleiben wollen, wozu sie verdammt sind.

Eines der bekanntesten Städte-Rankings wird von Mercer durchgeführt, einer global tätigen US-Unternehmensberatung für Personalmanagement. Sie misst weltweit die Stadt mit der besten «Lebensqualität», indem sie «Expats» standardisierte Fragen nach Kriminalität, Bankdienstleistungen, ansteckenden Krankheiten, Privatschulen, Restaurants und so weiter stellt. Aus den Antworten errechnet sie ihre Liste, deren beste Placierungen veröffentlicht werden. Die detaillierten Ergebnisse kann man kaufen. Ob das Schlusslicht Damaskus oder Bagdad heisst?

Was ist eine Stadt? Ein pulsierender Organismus, in dem Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Vorlieben um ihren Platz streiten und um das Zusammenleben ringen, ein Kosmos mit unzähligen Lichtern und vielen Schatten, mit Orten der Fröhlichkeit, des Luxus und des Elends, ein Universum der Kreativität und der Gefahr. Paris, schrieb der Romancier Honoré de Balzac 1835 in «Le Père Goriot», sei ein sich jeder Beschreibung entziehender Ozean mit versteckten Plätzen und unberührten Höhlen, mit Blumen, Perlen und Monstern. Ob die Expats in ihren «gated communities» diesen Ozean je entdecken?

Das Lebensqualität-Ranking gibt vor allem den beschränkten Horizont und den zweifelhaften Geschmack einiger männlicher weisser Manager wieder, mehr nicht. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn dieses und andere Städte-Rankings nicht medial verbreitet würden – und wenn die Stadtregierungen diese Listen nicht in ihre Strategien einbezögen. Im Wettbewerb um Firmensitze und Touristen ist in ihren Augen jeder gewonnene Rang Gold wert.

Wahrscheinlich investieren die grossen Städte viel Energie, um auf der Rangliste nach oben zu klettern oder wenigstens oben zu bleiben – was gar nicht so einfach ist, da ja alle anderen Städte das Gleiche wollen. Und wahrscheinlich richten die Städte, in denen schon heute mehr als die Hälfte der Menschheit lebt, ihre Politik in Zukunft noch weniger an den Bedürfnissen ihrer Bewohner aus, sondern an den Kriterien der Rankings. Am besten gleichen sie sich dem gewählten «brand» an, der weltweit mit bestimmten positiven Attributen assoziiert werden soll; die Stadt des Designs, der Liebe, der Informationstechnologie, des Barocks, des Pop. Was das Image stört und der Positionierung schadet, soll unsichtbar werden.

Simple Kriterien

Nicht weniger unsinnig sind die Hochschul-Rankings. Das Schanghai-Ranking – pikanterweise von einer Universität durchgeführt, die weder die moderne Lehr- noch Forschungsfreiheit besitzt – prüft jährlich tausend Hochschulen auf sechs Indikatoren, unter anderem auf die Anzahl Nobelpreise, die Anzahl vielzitierter Wissenschafter und die Anzahl Artikel, die in vielzitierten Journals veröffentlicht werden. Ähnlich geht das QS-Ranking vor, das von der englischen Firma Quacquarelli Symonds erstellt wird. Sie operiert weltweit im Managementbereich und vermittelt Studiengänge an den «besten Hochschulen».

Auch diese Rankings geben ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit wieder – und auch sie formen sie zugleich nach ihren simplen Kriterien um. Die Hochschulen wollen ihre Position halten und setzen daher auf die von den Rankings gemessenen Faktoren, also letztlich auf Prestige, Gelder und Anzahl Publikationen. Mit guter Forschung und guter Lehre, dem Auftrag der Universitäten, haben diese Faktoren nichts gemein, im Gegenteil: Der beseelte Wissenschafter leistet seine Arbeit aus intrinsischen Motiven, aus Freude an der Erkenntnis. Diese Motive wiederum treten in keinem Ranking auf.
Die Studierenden ihrerseits werden im Glauben bestärkt, dass das Studium eine Ware sei, die man an einer topgerankten Hochschule abholen oder kaufen könne – als ob deren Name, ihr «brand», die Garantie für einen erfolgreichen Bildungsprozess sei. Die «beste» Universität nützt nichts, wenn das innere Feuer – der Studenten – nicht brennt.


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