Dienstag, 10. Juni 2014

Zugreifen statt behalten.


 
aus Der Standard, Wien, 7 

Von Maschinen und Menschen
Viele junge Leute sind auf die Wirklichkeit nicht neugierig. Was an Wirklichkeit verbleibt, kann man ablichten und speichern. Ist das menschliche Gedächtnis überflüssig geworden?



 
Seit einigen Jahren stelle ich immer wieder fest, dass sich junge Menschen nicht erinnern können. Wenn ich sie frage, was sie am Wochenende gemacht haben, fällt ihnen nichts ein. Haben sie wirklich "nichts" getan, oder ist ihr Kurzzeitgedächtnis verkümmert? Wahrscheinlich haben sie im Internet gesurft, aber davon kann man nicht erzählen.

Frage ich nach Ereignissen in ihrer Kindheit, sind die Antworten meistens ebenso dürftig. Sicher, Zwanzigjährige haben anderes im Sinn, als Kindheitserinnerungen zu pflegen. Doch in Gesprächen über kürzlich gesehene Filme erhalte ich ebenso wenig Auskunft, "gut" oder "schlecht" ist alles, was ich erfahre, like und dislike. Über die Erinnerungsträgheit hinaus bemerke ich eine Unlust, sich mit Beschreibungen abzugeben, als verdiente die Wirklichkeit (oder die Fiktion eines Films) so viel Aufwand nicht. Die Wirklichkeit scheint gleichgültig geworden, eine belanglose, unvermeidliche Sache, und ebenso die Sprache, die einst erfunden wurde, damit die Menschen mit der Wirklichkeit umgehen, sie verstehen oder bannen, erhöhen oder verfluchen können.

Viele junge Leute sind auf die Wirklichkeit nicht neugierig. Sie bleiben in dem engen Kreis, der ihnen von jeher vertraut ist, wagen sich lieber nicht auf unsicheres Terrain. Ihre Gehirne verharren zufrieden bei Klischees und Stereotypen, die sie von irgendwoher, aus diversen Massenmedien, vermittelt bekommen haben. Für Klischeebilder braucht man keine Beschreibung, weil sie ohnedies jeder kennt. Man muss sich über sie nicht verständigen, es genügt, sie zu "liken". Was an Wirklichkeit trotz allem vorhanden bleibt, kann man ablichten - Handy, Smartphone oder Tablet speichern die Szene. Früher dienten solche Privatfotos der Erinnerung. Es gab nicht viele, deshalb behandelte man sie mit Sorgfalt, klebte sie in Fotoalben, ließ sich Kommentare einfallen.

Von den Millionen Fotos, die heute täglich gemacht werden, werden die meisten zwar gespeichert, aber nur kurz angesehen, ehe sie im Archiv verschwinden, dessen Symbol auf der computergrafischen Leiste gleich neben dem Mülleimer steht.
 
Die vergessene Volksheldin

Neulich sprach ich mit einer Gruppe von Studenten über japanische Volkshelden. Eine - übrigens begabte und lernfreudige - Studentin aus Okayama erwähnte die Astronautin Chiaki Mukai. Ich fragte sie, wie lange das Ereignis her sei. Antwort: "Keine Ahnung, das war lange vor meiner Geburt." Reflexhaft begann sie, auf der Tastatur ihres elektronischen Lexikons zu tippen, das mehrere Sprachwörterbücher und eine Sammlung von sogenanntem Weltwissen enthält. Ich bat die Studentin, nicht nach der Jahreszahl zu suchen. Danach ergriff ihre Nebenfrau das Wort, und während diese noch sprach, hellte sich das Gesicht der Studentin aus Okayama auf. Ich konnte förmlich sehen, wie sie sich erinnerte. Aber nicht nur das, ich sah die Verwunderung der Studentin über die Tatsache, dass sie sich jetzt erinnerte. Chiaki Mukai war 1994 mit einer US-amerikanischen Mission in den Weltraum geflogen. Die Studentin war sich deshalb so sicher, weil ihre 1994, zwei Jahre nach ihr selbst, geborene Schwester den Vornamen eben jener Volksheldin erhalten hatte. Um das schläfrig gewordene Erinnerungsvermögen zu aktivieren, brauchte es in diesem Fall nicht viel; es genügte, den Deckel des mobilen Wissenscomputers zu schließen. Dennoch: Sollten die Datensuchreflexe überhandnehmen, kann man sich vorstellen, dass das persönliche Erinnerungsvermögen noch mehr schwinden und schließlich verschwinden wird.
 
Interaktivität? Kreativität?

Letzten Sommer mussten wir einen halben Tag auf dem Flughafen in Istanbul verbringen, weil unsere Maschine überbucht war. Zufällig saß auf der Wartebank neben uns eine Familie mit drei Kindern, das kleinste ein Mädchen im Alter meiner siebenjährigen Tochter Mayuko, die anderen etwas größer. Die Familie kam aus dem Urlaub in Paris und war auf dem Weg nach Saudi-Arabien, ihrer Heimat. Die Kinder trugen teure Markenkleider, sprachen bestes Englisch, besuchten zu Hause eine englischsprachige Schule und hatten einen amerikanischen Hauslehrer. Das kleinere Mädchen spielte mit einem Tablet-Computer, für den sich Mayuko interessierte. Die saudische Familie zeigte sich sehr freundlich, die Kinder ließen Mayuko, die mit Videogames nicht vertraut ist, mitspielen und gingen auf ihren Wunsch ein, etwas anderes statt der immergleichen Verfolgungsjagden, die ihr bald langweilig wurden, auf den Bildschirm zu zaubern. Zusammen entschieden sie sich für ein Zeichenprogramm, mit dem man Bildelemente aussuchen und kombinieren, aber auch Striche ziehen und Flächen färben konnte. Das saudische Mädchen zog es vor, fertige Elemente anzuhäufen, Mayuko wollte lieber selber zeichnen. Zunächst bestaunten die drei Kinder die Kunst ihrer neuen Freundin, dann aber wies die Tablet-Besitzerin sie auf zusätzliche Funktionen hin, von denen es ihr besonders die Wisch-Funktion angetan hatte. Mit dieser wischte sie die Farben ineinander und überdeckte die Striche, die Mayuko gezogen hatte. Das gefiel der Künstlerin nicht, aber sie biss die Zähne zusammen, schließlich gehörte das Gerät nicht ihr. Sie forderte ihre Freundin auf, selbst etwas zu zeichnen. Das saudische Mädchen versuchte es, brachte aber bloß Kritzeleien zuwege, wie sie man von Drei- oder Vierjährigen kennt. Anscheinend besaß sie kein bildnerisches Vermögen, konnte aber den Computer in Windeseile bedienen und drückte oder wischte stets an den "richtigen" Stellen auf dem Tablet. Nach einer Weile gaben die beiden Mädchen das Zeichnen auf und widmeten sich einer Seite, wo man Puppen mit schicken Kleidern versehen konnte: eine Art Copy-and-paste, das lange vor dem Computerzeitalter unter Kindern beliebt war.
 
Surfen, Springen, Rasen

Eigentlich ist das Wort "surfen" ein Euphemismus. Der Nutzer von Computerprogrammen und besonders des Internets gleitet nicht auf einer Welle, sondern springt unablässig von einem Ort zum anderen. "Windowing" ist das passendere Wort (das deutsche "Fensterln" war leider schon anderweitig besetzt), man öffnet ein neues, ein neues, ein neues Fenster ... Die sogenannte Verweildauer ist kurz, oft nur eine Sekunde oder ein Bruchteil davon. Das Fenster öffnet sich auf einen Ort, womöglich eine ganze Welt, aber man verweilt eigentlich nie, man muss ja weiter, man sucht unablässig, das Finden tritt in den Hintergrund, und wenn man einmal etwas gefunden hat, vergisst man es wieder, man lässt es hinter sich zurück, gespeichert ist es sowieso "irgendwo", und auch die History ist gespeichert, meine Surf-Biografie, die sich in Sekundeneinheiten bemisst.

Hin und wieder hole ich mir bei den Jugendlichen meiner Verwandtschaft Rat in Computer- oder Internetangelegenheiten. Dabei erstaunt mich immer das rasende Tempo, mit dem sie die virtuellen Wege zurücklegen. Es erstaunt mich auch die Gleichzeitigkeit der Bewegung in verschiedene Richtungen, das Hantieren mit einer Vielzahl geöffneter Fenster. Würde man diese Bewegungen visualisieren, es käme ein chaotisches Liniengewirr zutage.

Manchmal geschieht es, dass ich hinter dem Rücken des Jungen stehenbleibe, wenn er zu seinem Videospiel zurückkehrt. Auch da ist das Tempo hoch, der Rahmen aber bleibt starr, die (computertechnisch) ausgemalte Szenerie wirkt oft beschaulich, und was mich am meisten erstaunt: Die Geschichten, die da vom Nutzer mitgestaltet werden, und die Art, wie sie erzählt werden, gleichen den Geschichten und der Machart der Romane des 19. Jahrhunderts, weniger vielleicht Balzac als den Abenteuerromanen von Alexandre Dumas. Das, was hinter der digitalen Raserei steckt, ist ziemlich alt.
 
Übersetzungsmaschinen

In Japan, wo ich mich die meiste Zeit des Jahres aufhalte, unterrichte ich Deutsch an einer Universität. So gut wie alle Studenten bringen ihre kleinen elektronischen Wörterbücher mit und öffnen sie reflexartig, wenn der Unterricht beginnt. Finger und Computer sind schnell, aber doch nie so schnell wie Zunge und Gehirn; eine flüssige Kommunikation in der Fremdsprache kommt bei Gebrauch der Geräte nie zustande, zumal die meisten Wörter mehrere Bedeutungen haben und die Erklärungen oft nicht auf Anhieb durchschaubar sind. Der Fluss der Wörter wird auf diese Weise nicht gefördert, sondern gestört. Vor allem aber: Wer sich auf das E-Wörterbuch verlässt, wird die Wörter nie in seinem Gedächtnis speichern, weil er darauf vertraut, dass sie ohnehin jederzeit im Computer verfügbar sind, und weil er viel zu beschäftigt mit der Technik ist, als dass ihm Zeit bliebe, sich das Gelesene einzuprägen.

Die Einzigen, die von der neuen Gewohnheit der E-Wörterbücher profitieren, sind die Firmen, die sie herstellen. Ich kenne einen Lehrer, der die Geräte in seinen Klassen verbietet. Ich tue das nicht, weil mir Verbote widerstreben, aber im Grunde hat der Kollege recht. Von echten Lernprozessen werden die Lernenden durch mobile E-Wörterbücher nur abgelenkt.

Einmal sollte ein Student ein Referat über die Stadt Salzburg halten. Er suchte im Internet drei oder vier Seiten in japanischer Sprache auf, vermutlich jene, die im Ranking der Suchmaschine auf den vordersten Plätzen (von einigen Millionen) standen. Da sein Deutsch schlecht ist, verfiel er auf die Idee, eine Übersetzungsmaschine zu bemühen, wofür nur wenige Tastaturberührungen notwendig sind. Als er das Ergebnis vortrug, brach ich sein Referat ab, weil es unmöglich war, dass die Zuhörenden irgendetwas verstanden, und versuchte dem Studenten zu erklären, weshalb die von ihm gewählte Methode inakzeptabel sei.

Ich hatte nicht den Eindruck, dass er meine Einwände verstand. Behalten wird er nur haben, dass "man das nicht tut". Sein Denkvermögen ist zu begrenzt, als dass er zu jenen gehören könnte, die meinen, die Übersetzungsmaschinen müssten nur noch etwas verbessert werden, damit sie einwandfrei zu gebrauchen seien. Ich sehe für die nächsten hundert Jahre diese Möglichkeit nicht als gegeben. Es wären dazu Maschinen nötig, die gewaltige Kontexte überblicken und beherrschen können und zu schöpferischem Agieren fähig sind.
 
Wissen aus der Dose

Was Studierende, und nicht nur sie, meistens verwenden, wenn sie zu einem Thema Informationen sammeln und gestalten sollen, ist Wikipedia. In Google kommt der jeweilige Wikipedia-Eintrag immer ganz oben. Die Rubrik der Enzyklopädie hat eine gewaltige Tiefe, tatsächlich aber tasten die allermeisten Nutzer das System nur an seiner Oberfläche ab (außerdem stellt sich die Frage, was sich in der Tiefe verbirgt - gewiss sehr viel Müll). Wikipedia könnte ein Segen für die Bildung der Menschheit sein, das Unternehmen eine Fortsetzung und Perfektionierung, zugleich aber auch Popularisierung dessen, was die französischen Aufklärer, die Enzyklopädisten um Jacques Diderot, einst im 18. Jahrhundert begannen, und tatsächlich stößt man im Internet auf zahllose Wikipedia-Artikel von hoher Qualität.

Dennoch dürfte Wikipedia wenig zur verstärkten Wissensbildung in der Gesellschaft beitragen, eher dazu, dass sich die Nutzer, die Konsumenten des Informationsangebots, unkritisch auf das Dargebotene verlassen und sich eigenen Nachforschens und Denkens enthalten. Solches lässt zumindest der Gebrauch vermuten, den man unter Studenten beobachten kann. Dass dem so ist, liegt weniger an der Qualität von Wikipedia, die ungleichmäßig ist, als an dem Medium, in dem diese Enzyklopädie gewachsen ist.

Hinzu kommt die heutzutage allgemein verbreitete Unfähigkeit, ja, der Unwille, die Herkunft von Informationen, aber auch von Erkenntnis- und Wertungsangeboten festzustellen. Was im Internet - nicht nur in Wikipedia! - steht, ist allemal gut, jedenfalls gut genug, um es in ein Referat, eine Bachelorarbeit, einen Facebook-Beitrag oder ein Posting einzubauen. Kein Wunder, dass Gerüchte und Verschwörungstheorien heute kräftiger blühen denn je. Und sie verbreiten sich, dank Internet, in Windeseile.

In den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts diagnostizierte Pier Paolo Pasolini in seinen Freibeuterschriften eine "anthropologische Mutation", die aus dem von ihm emphatisch geliebten einfachen Volk Objekte kapitalistischer Werbung und Subjekte eines kulturindustriellen Konsumverhaltens machte. Zwar sah Pasolini die Ursachen der soziokulturellen Veränderungen nicht (wie jener österreichische Politiker, der das Wort von der "Umvolkung" aufgebracht hat) im Einschleusen von "fremdem Blut", aber auch er befürchtete, die Mutation könnte auf die genetische Substanz der Gesamtbevölkerung seines Landes übergreifen. Pasolini dramatisierte die Wirklichkeit; ein gelassener Beobachter würde einwenden, Umvolkung finde immer statt, warum sollte "das Volk" oder auch nur eine Bevölkerungsgruppe von nachhaltigen Änderungen verschont bleiben. Was Pasolini mit guten Gründen kritisierte, war die rapide Ausbreitung des Konsumkapitalismus in sämtlichen Gesellschaftsschichten.

Dieser Prozess wurde durch den technischen Fortschritt der globalen Digitalisierung und Vernetzung noch einmal beschleunigt und endgültig anthropologisch vertieft. Die Generationen, die mit Internet und Mobilcomputern aufwachsen, werden zwangsläufig zu pausenlosen Konsumenten von Daten, von virtuellen neben all den realen Gütern. Der allgegenwärtige und simultane Konsumismus entlastet vom Denken, macht kritische Distanznahme unnötig, höhlt das persönliche Gedächtnis aus und führt zu einer Vorherrschaft von Mainstreams, die man in einer anderen Epoche als Gleichschaltung bezeichnet hätte.

Im Unterschied zu jener Epoche werden Nischen und Randbezirke toleriert, oder genauer, sie werden ignoriert und spielen keine Rolle. Auch wenn der Befund, der Pasolinis Gedanken fortsetzt, düster scheinen mag: Aus eben jenen Nischen kommt das Neue, das sich der Möglichkeiten der globalen Digitalisierung bedient, zugleich aber an den alten anthropologischen Fundamenten festhält. Ob das dissidente Neue unter gegenwärtigen Bedingungen einen nennenswerten Einfluss auf den Mainstream gewinnen kann, ist fraglich.

Vergessen

Friedrich Nietzsche, der seine Laufbahn als Historiker des griechischen Altertums begann, schrieb eine Abhandlung über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Das individuelle wie auch das kollektive Gedächtnis, so lautet seine These, werde in bestimmten Phasen der Entwicklung hypertroph und beginne, das Leben einzuschränken, am Ende sogar zu vernichten. Es komme aber darauf an, schöpferisch zu sein und etwas Neues zu schaffen. Zu diesem Zweck sei es immer wieder nötig, sich vom Überlieferten und, genereller, von der Last des Denkens frei zu machen. Erinnern und Vergessen, beides hängt in der prädigitalen Kultur aufs Engste zusammen.

Die übergroße, ungeordnete, vom Subjekt - dem Verbraucher - nicht mehr differenzierbare und insofern gleichgültige Datenmenge kann zwar zur Unterhaltung dienen, zum sogenannten Infotainment, wo man Beliebiges und Beliebtes auswählt, doch sie steht jenseits der von Nietzsche herausgearbeiteten Dialektik. Die Erinnerungsschwachen haben nichts zu vergessen. Wenn die Gehirne den digitalen Medien endgültig angepasst worden sind, erübrigt sich nicht nur das Erinnerungsvermögen, sondern auch die Fähigkeit des Vergessens, es kommt zu einer simultanen Dauerpräsenz von gleichgültigen Dingen und einer subjektiven Trance, die gewissen, in der Geschichte oftmals gepriesenen Erlösungszuständen ähnelt.

Ich im Fenster

Die junge Frau, der ich gestern im Zug über die Schulter geschaut habe, mit dem vielfenstrigen E-Tablett unter den flinken Fingern und goldenen Kopfhörern in den Ohren, schien sie nicht glücklich? Von Zeit zu Zeit berührte sie einen Punkt rechts oben im Rechteck, und was erschien auf dem Bildschirm? Ihr eigenes Gesicht. Sie strich sich eine Braue zurecht, lächelte zufrieden, berührte nochmals den Punkt und verschwand in einem anderen Fenster.
 

Leopold Federmair, geb. in OÖ, ist Schriftsteller und Übersetzer, außerdem unterrichtet er Deutsch an der Universität Hiroshima. Zuletzt erschienene Bücher: "Das rote Sofa" (Otto Müller); "Die großen und die kleinen Brüder. Japanische Betrachtungen" (Klever). Im August erscheint sein neuer Roman "Wandlungen des Prinzen Genji".

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen