Dienstag, 3. Juni 2014

Wenn der Filter versagt: Hintergrundrauschen und Trommelfeuer.

aus nzz.ch, 29. Mai 2014, 05:30

Conditio techno-humana 
Das Heu im Nadelhaufen

Eduard Kaeser ⋅ Man spricht vom «information overload», von der Überlastung und Übersättigung durch Information. Der amerikanische Medientheoretiker Clay Shirky prägte gegen diesen Truismus einen Slogan: Nicht die Überlastung mit Informationen ist das Problem, sondern das Versagen der Filter.

Halten wir uns die folgende ganz alltägliche Situation vor Augen. Ich mache einen Einkaufsbummel durch den Supermarkt. Überall und jederzeit fluten mich Angebote und Verheissungen von Waren an. Meine Aufmerksamkeit ertrinkt buchstäblich in diesem Umgebungsrauschen. Ich muss den grössten Teil davon ausblenden, um mich auf ganz bestimmte Objekte zu konzentrieren. Das ist die herkömmliche Filterfunktion der Sinne: spezielle, meinen Absichten entsprechende Signale aus dem Rauschen herauszufischen.

Nun vergleiche man damit den virtuellen Einkaufsbummel via Klick. Die Netzumgebung ist ungleich «smarter». Sie «erkennt» mich, ist auf mein persönliches Kundenprofil zugeschnitten: Hallo Herr Kaeser, Sie haben schon X und Y gekauft, es könnte Sie auch Z interessieren! Ich bewege mich durch das Netz als Zielobjekt, als «target». Die Umgebungsinformation ist kein Rauschen, sondern ein massives gebündeltes Bombardement durch spezielle, auf mich zugeschnittene Daten. Nicht das Rauschen stellt hier das Problem dar, sondern das Signal.

Man kann also zwei Arten von Informationen unterscheiden: solche, die für mich nicht wichtig sind (das Rauschen), und solche, die für mich wichtig sind (die an mich persönlich adressierten Signale). Moderne Filter, wie sie etwa bei Amazon oder Anbietern von E-Mail-Diensten in Betrieb sind, unterscheiden immer besser zwischen diesen beiden Arten. Das kann ein scheinbares Paradox erzeugen: In dem Masse, in dem Informationen aussortiert werden, fühle ich mich überlastet und übersättigt.

Wir haben es hier mit einer nicht-intendierten Konsequenz des digitalen Filters zu tun. Er schützt mich vor der einen Art von Information, damit eine andere Art ungehindert Zugang zu mir findet. Er richtet mich ab auf ein bestimmtes Einkaufsverhalten. Zoologen sprechen vom «Stereotypieren», wenn Tiere, deren Bedürfnisse nicht befriedigt werden, in ein fixes Verhaltensschema fallen. Internetfirmen bauen ihrerseits auf das Stereotypieren des Netzkunden. So wird er als Werbe-Target immer besser einschätzbar.

Dem digitalen Filter kommt dabei die Funktion zu, Informationen für mich auszusuchen: Mitteilungen von Freunden und Kollegen, neue Apps, Celebrity-Klatsch, Urteile von Experten, die ich schätze, Buch- oder Artikelempfehlungen. Der Filter peppt all das auf zu Updates, Pop-ups, Mails, News-Feeds, Offerten – zu einem stetigen, nie versiegenden Datenstrom. Es handelt sich dabei wohlgemerkt nicht um lästigen Unflat, sondern um höchst interessante, mich persönlich betreffende Information; Stoff, den ich will und mag. Und davon kriege ich mit zunehmend besseren Filtern immer mehr.

Bessere Filter mindern die Überflutung nicht, sie intensivieren sie, indem sie sie punktgenau auf mich richten. Das ist ein klassischer Fall von technischem «Solutionismus»: Man verkauft ein Problem als Lösung. Um es mit der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen auszudrücken: Früher gab es sehr viel mehr Heu als Nadeln; heute gibt es fast nur noch Nadeln. – Aua!

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