Donnerstag, 19. Juni 2014

Homo viator.

Julian Nitzsche  / pixelio.de
aus nzz.ch, 18. Juni 2014, 05:30

Aus der Geschichte des Gehens und der Wissenschaft vom Gehen
«Nachrangige Verkehrsteilnehmer»


Das «Gehen zu Fuss» war, bevor das fälschlich «automobil» – «selbstbewegend» – genannte Kraftfahrzeug erfunden wurde, die alltäglichste, gesündeste, billigste Art, sich fortzubewegen. Und derzeit steigt das Zu-Fuss-Gehen aus gesundheitlichen, ökologischen, auch ökonomischen Gründen wieder rapide im Kurs. Das von Georg Büchners Lenz so sehr vermisste Gehen auf dem Kopf oder das artistische Gehen auf den Händen hat das scheinbar tautologische «Gehen zu Fuss» nicht ablösen können. Stattdessen ist die alte Zielbestimmung der Fussgängerei: die des unterwegs befindlichen, pilgernden «Homo viator», der hienieden seinen Heilsweg sucht, wieder so populär geworden, dass man sich etwa auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela unverhofft unter Tausenden von Mitgehern findet. Sie alle wollen ans Ziel. Doch der Weg, der unter den spirituell Fortgeschrittenen das Ziel sein soll, bedarf nach wie vor des Gehens.
 
Zwei einander ergänzende Bücher

Zwei in der Diktion und im Zuschnitt sehr unterschiedliche, aber einander gut ergänzende Bücher skizzieren die Geschichte des Gehens wie die Geschichte seiner Erforschung im 19. Jahrhundert: Andreas Mayers «Wissenschaft vom Gehen» und Johann-Günther Königs «Geschichte des Gehens» unter dem lapidaren Titel «Zu Fuss». Mayer schildert eine historisch und epistemologisch versierte Geschichte der Wissenschaft vom Gehen. Dem gehenden Leser wie dem lesenden Geher mutet das stupend gelehrte Buch einige Anstrengungen zu. Nicht alles beispielsweise aus der Physiologie des Gehens ist heute so detailliert wissenswert, wie Mayer es behandelt. Lesenswert aber ist, wie sich der menschliche Körper für die «Gehwissenschaften» in eine sich fortbewegende Maschine verwandelt und die Knochen- und Gelenkmechanik zur neuen Universalwissenschaft wird.

Geradezu spannend zu lesen das grundlegende Eingangskapitel, das mit Spaziergängern, Fussreisenden und marschierenden und exerzierenden Soldaten die Konturen einer praktischen Wissenschaft vom Gehen zeichnet. Dieses Kapitel steht im Zeichen der Naturnähe Rousseaus. Des Philosophen «promeneur solitaire» wird eine Leitfigur der Epoche der Aufklärung. Das Gehen zu Fuss ist Rousseaus Art der Rückkehr zur Natur. Als Gegenbild der aristokratischen und bourgeoisen Fortbewegung in und mit der Kutsche hat es den Vorzug, in einer Welt der unmittelbaren Erfahrung zu sein, während die Insassen der Kutschen zwar bis zur Abenteuerlichkeit gefährlich leben, aber schon die Vorhut eines späteren rasenden Sich-nicht-selbst-Bewegens sind. Mayer gelingt es, über die Kutsche zu schreiben, ohne auch nur ein Wort an die späteren Automobile, diese Ruinen körpereigener Beweglichkeit, verschwenden zu müssen.

Johann-Günther Königs «Geschichte des Gehens» wiederum bietet eine Fülle historischer Informationen von den Anfängen der zu Fuss gehenden humanen Evolution bis zur Rückentwicklung körperlicher Mobilität in der Gegenwart. Der «aufrechte Gang» Ernst Blochs* bezeichnet das utopische Potenzial des Gehens. Johann Gottfried Seumes «Spaziergang nach Syrakus» mit 5000 Gehkilometern, Karl Philipp Moritz' Fussreisen in England und Italien, Friedrich Hölderlins Durchquerung des südwestlichen Frankreich: In den Lebensgeschichten der aufrechten Geher nach Rousseau wird der untrennbare Zusammenhang zwischen Gehen, Denken und Dichten, Körper- und Geistbewegung plastisch. Hier hätte man sich weitere philosophische und psychologische Vertiefungen gewünscht.
 
In freier Wildbahn

Königs Panorama mündet in eine Gegenwart, die zwar das wandernde, sportliche, spazierende, «nordisch walkende», pilgernde Gehen wiederentdeckt, aber keinen Zweifel daran lässt, wer in diesem Panoptikum die Priorität beansprucht. Trotz allen Versuchen seit der Französischen Revolution, gegen die Herrschaft der automobilen Kutschen eine «Republik der Fussgänger» zu etablieren, hat sich eine Verkehrsordnung etabliert, die den Fussgänger prinzipiell als «nachrangigen Verkehrsteilnehmer» definiert.

Wie nach dieser Regelung Verkehr und Mobilität aussehen, hat schon in den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts ein Berliner Feuilleton von Sebastian Haffner über das «fragile Leben der Fussgänger» demonstriert: Der Fussgänger «hat gewisse Stellen zur Verfügung, an denen ihm Freiheit und Sicherheit zugesagt sind, nämlich die Bürgersteige und die bezeichnend genug benamsten ‹Rettungsinseln›. Sobald er, wie unvermeidlich, diese Schutzparks und Zufluchtsstätten verlässt, haben alle Ungetüme das Recht der freien Jagd auf ihn, die zermalmenden Autobusse, die sausenden Strassenbahnen, die rasenden Autos aller Grössen und Rassen, die Wolfsrudel der Radler, die raubvogelartig zustossenden Motorräder. Nicht genug, dass sie ihm nach dem Leben trachten, sie verwirren ihn noch zuvor und suchen ihn durch heulende, drohende, kreischende und bellende Kampfschreie um seine einzige Verteidigungswaffe, seinen Verstand, zu bringen. Sein Spiel scheint aussichtslos.» – So scheint es? So ist es!

Andreas Mayer: Wissenschaft vom Gehen. Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert. S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 311 S., Fr. 29.90.

Johann-Günther König: Zu Fuss. Eine Geschichte des Gehens. Reclam, Stuttgart 2014. 239 S., Fr. 17.90
  

*) Den hat der schreckliche Schwadroneur bei Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes gefunden; das "Auf-eigenen-Füßen-Stehen" kam aber schon bei Fichte vor. JE

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