Mittwoch, 14. Mai 2014

Transzendentale Synthesis im Scanner.

Hirnforschung
aus Die Presse, Wien, 4. 5. 2014

Wie das Gehirn kombiniert
Zwei Wiener Hirnforscher sind dem Phänomen auf der Spur, wie das Gehirn es schafft, Informationen gemeinsam oder getrennt zu verarbeiten.


Auf unser Gehirn strömen unzählige Informationen ein, die verarbeitet werden müssen: Farben, Geräusche, Formen, Gerüche und vieles mehr.

Wir sind ständig mit vielfältigen Sinneseindrücken konfrontiert, die jedoch nicht einzeln und isoliert wahrgenommen werden, sondern zusammen unser Bild von der Umwelt ergeben. Um dem Menschen ein Zurechtfinden in der Umgebung zu ermöglichen, müssen sie sinnvolle Einheiten bilden. Beispiele dafür sind ein herannahendes schwarzes Auto, eine rote Ampel, ein brauner, bellender Hund. Es geht also um die klassische Frage: Wie werden unterschiedliche Aspekte eines Objekts – wie Form, Farbe oder auch Geruch – zu einem einzigen wahrgenommenen Objekt kombiniert?


„Mit dieser Frage hat sich der Neurophysiologe Wolf Singer stark auseinandergesetzt“, erklärt Thomas Klausberger vom Zentrum für Hirnforschung an der Medizinischen Universität Wien. Gemeinsam mit seinem Kollegen Bálint Lasztóczi ist es ihm nun gelungen, ein Detail des Prozesses aufzuzeigen. Die Arbeit wurde kürzlich im Journal „Neuron“ publiziert.

Frisbee als Beispiel. 

„Wir knüpfen an die sogenannte Binding Theory an“, so der Wissenschaftler. „Wählen wir etwa eine rote Frisbeescheibe als Beispiel: Sie nehmen mit Ihren Sinnesorganen die Form und die Farbe dieses Objekts wahr, identifizieren das Objekt als Frisbee, aber nicht als irgendeine Frisbeescheibe, sondern als rote Scheibe. Diese Informationen werden in unterschiedlichen Gehirnarealen erfasst, laufen dann zusammen und ergeben ein Bild vom Objekt.“

Ein anderes Beispiel verdeutlicht die Kombinationsgabe des Gehirns noch eindrucksvoller: Wer das Wort Griechenland hört, denkt dabei in einem Zusammenhang an Urlaub und in einem anderen an die Finanzkrise. Wir koppeln dabei also zwei völlig unterschiedliche Begriffe miteinander. Wie funktioniert das? Wie schafft es das Gehirn, derartige Inhalte zu kombinieren und dann wieder zu trennen?

Schwingungen erzeugt. 

„Man geht von den sogenannten Gamma-Schwingungen aus, speziellen Hirnwellen zwischen 30 und 100 Hertz“, erklärt Hirnforscher Klausberger die Theorie dahinter. „Es wird also, um bei unserem Beispiel zu bleiben, eine Schwingung für rot erzeugt und eine Schwingung für die Frisbeescheibe. Überlagern sich die beiden Schwingungen, nehmen wir eine rote Frisbeescheibe wahr“, sagt der Forscher. In einer Nervenzelle kommen diese beiden Schwingungen zusammen und werden überlagert. Ebenso verhält es sich mit der Kombination von Griechenland und Urlaub oder Griechenland und Finanzkrise. Aber wie genau funktioniert das in den Nervenzellen?

Nervenzelle als Tanne. 

Das konnten Klausberger und Lasztóczi nun sichtbar machen. Dazu werteten die beiden Hirnforscher der Universität Wien neurophysiologische Ableitungen von Nervenzellen und Signale aus dem Elektroenzephalogramm, kurz EEG, von Ratten aus. Das Interessante daran: Die Wissenschaftler wussten freilich nicht, welche Informationen die Rattengehirne verarbeiteten. Sie sahen aus den Messergebnissen lediglich, dass es sich um zwei Gamma-Schwingungen handelte, deren Signale sich dann überlagerten oder eben nicht. Die Erklärung: „Nervenzellen sind asymmetrisch gebaut. Man könnte sich eine Nervenzelle als Tanne vorstellen“, wagt Klausberger einen Vergleich. Sie empfangen Informationen sowohl direkt am Zellkörper als auch an entfernten Fortsätzen, den Dendriten.

Räumliche Trennung. 

„Man muss sich das so vorstellen, dass ein Signal vom Dendritenbüschel aufgenommen wird, das andere Signal kommt direkt am Zellkörper in Form von zwei unterschiedlichen Gamma-Schwingungen an“, so der Forscher. Die Nervenzelle trennt also die beiden Informationen räumlich. Sie kommen getrennt an und können dann je nach Bedarf gemeinsam oder unabhängig voneinander verarbeitet werden.

Die Wissenschaftler haben schon neue Pläne: Warum unterschiedliche Gamma-Schwingungen in der Nervenzelle einmal überlagert und kombiniert werden und ein anderes Mal nicht, das ist der nächste Forschungsschwerpunkt der beiden Hirnforscher. Die zentrale Frage ist: Wie entscheidet das Gehirn, was in einer Situation wichtig und sinnvoll ist?

Flexibles Organ. 

„Wir sind davon überzeugt“, sagt Klausberger, „dass das etwas damit zu tun hat, welche Nervenzellen besonders aktiv sind und welche Informationen im Moment dadurch stärker repräsentiert werden. Das kann sich natürlich situationsbezogen ändern. Haben Sie beispielsweise viel über die Finanzkrise in Griechenland gelesen und gehört, werden diese beiden Signale stärker auftreten als das Signal für Urlaub.“ Das zeigt einmal mehr: Unser Gehirn ist ein flexibles Organ, das zahlreiche Möglichkeiten miteinander kombinieren kann. 

Gehirnforschung

Gehirnwellen sind Spannungsschwankungen im Gehirn. Sie können mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG), einer Methode der neurologischen Forschung, sichtbar gemacht werden. Aufgrund der Frequenzen unterscheidet man fünf Kategorien: Gamma, Beta, Alpha, Theta und Delta. 
Gammawellen haben die höchste Frequenz. Sie wurden als letzte entdeckt und sind daher noch nicht ausreichend untersucht. Forscher bringen sie in Zusammenhang mit Höchstleistungen und hohem Informationsfluss.


Nota.

Der Versuch macht den Vorgang sichtbar, den Kant als transzendentale Synthesis* beschreibt: Das Mannigfaltige der sinnlichen Wahrnehmung wird zu sinnhaften Einheiten zusammengefügt. "Wie entscheidet das Gehirn, was in einer Situation wichtig und sinnvoll ist?" Es sortiert nicht etwa nachträglich, nach Empfang alle 'einzelnen' Sinnesreize, evaluiert sie und fügt sie dann zusammen. Sondern es hat vorab eine 'Intention', auf die hin es die 'Einzelheiten' schon gruppiert hat, wenn sie bei ihm 'einlaufen'.

Nicht die empirische Forschung muss die Transzendentalphilosophie 'bestätigen'. Wozu wäre das gut? Umgekehrt: Die Transzendentalphilosophie gibt der empirischen Forschung einen Hinweis, in welche Richtung sie weitersuchen soll; nicht etwa: Wo sie etwas finden kann, sondern: Wonach sie überhaupt ausschauen soll. Die bildgebenden Verfahren der Hirnforscher können immer nur zeigen, was passiert; aber nicht, was es bedeutet. Beweisen können Hirnforscher und Transzendentalphilosophen einander gar nichts.

Zur Erläuterung: Hätten die empirischen Daten angezeigt, dass es im Gegenteil genau so zugeht: Sinnesreize kommen im Gehirn einzeln an, werden dort begutachtet und nach irgendwelchen (?!) Gesichtpunkten zu distinkten Einheiten gefügt - dann käme der Transzendentalphilosoph in Verlegenheit und müsste nochmal gründlich nachdenken. Mehr nicht.

*) Dass diese Synthesis offenbar stattfindet, ist der einzige Grund, weshalb Kant ein transzendentales Ich als deren Agenten annimmt. Eine andere 'Existenz' führt das transzendentale oder absolute Ich - das "Ich der Philosophen", wie mancher Hirnforscher sagt - gar nicht; keine Wunder also, dass es sich im Gehirn nicht lokalisieren lässt. Man erkennt es nur in und an seiner Leistung.

JE 

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