Dienstag, 13. Mai 2014

Moralität und Kalkül.

Quentin de Metsys
aus Süddeutsche.de 

Sprachwissenschaft
Grammatik und Ethik
Einen Menschen opfern, um mehrere andere zu retten? Die Antwort hängt auch davon ab, ob Menschen das Dilemma in ihrer eigenen oder einer fremden Sprache analysieren. 
 
Von Sebastian Herrmann

Erst kommt die Sprache, dann die Moral. Ungefähr so ließe sich ein altbekannter Ausspruch über das ethische Vermögen des Menschen abwandeln. Werden Probanden nämlich aufgefordert, in einer moralisch verzwickten Situation eine Entscheidung zu treffen, spielt die Sprache eine große Rolle: Je nachdem, ob das Szenario in ihrer Mutter- oder in einer Fremdsprache geschildert wird, unterscheiden sich die Urteile. Das demonstrieren Psychologen um Albert Costa von der Universität Pompeu Fabra in Barcelona in einer Studie im Fachblatt Plos One (Bd. 9, S. e94842, 2014).
 
Die Wissenschaftler legten ihren Probanden ein klassisches Szenario aus der Moralpsychologie vor. Sie sollten sich vorstellen, auf einer Fußgängerbrücke zu stehen, wo sie Zeuge eines drohenden Unglücks werden. Ein Zug rast auf fünf Menschen zu, und es besteht nur eine Möglichkeit, das Leben der Unglücklichen zu retten - indem ein anderes geopfert wird. Dazu müssten die Beobachter auf der Brücke einen dicken Mann auf die Gleise stoßen. Eine unglaubliche Vorstellung, einen Menschen umzubringen, um andere zu retten? Gibt es in dieser Situation eine richtige Entscheidung? Aus utilitaristischer Perspektive sollte der Beobachter den Mann opfern. Fünf Leben sind mehr als eines. Doch in den vielen Studien, in denen Probanden dieser fiktiven Entscheidung ausgesetzt waren, revoltierte etwas in ihnen. Ihre moralischen Intuitionen verboten es, aktiv einen Unschuldigen zu töten - selbst wenn damit mehrere Leben gerettet werden.
 
Werden Aufgaben in der Muttersprache gestellt, fällt man eher auf logische Fallen herein
 
Dieses Ergebnis zeigte sich auch in der aktuellen Studie der spanischen Psychologen, vor allem, wenn den Probanden das Dilemma in ihrer Muttersprache vorgelegt wurde. In einer Fremdsprache - zu den Teilnehmern zählten Franzosen, Israelis, Amerikaner und Koreaner - war der Anteil derjenigen höher, die sich für die schreckliche Tat zum Wohl der fünf Menschen entschieden. "Das Urteil sollte nicht davon abhängen, ob man über das Leben des dicken Mannes oder von el hombre grande nachdenkt", sagt Costa. "Aber leider ist genau das relevant."
 
Moralpsychologen haben das Bild vom rational abwägenden Menschen bereits stark angekratzt. In zahlreichen Arbeiten zeigen sie, dass die Frage danach, ob eine Handlung gut oder schlecht ist, stark von den Emotionen geprägt wird. Die ersten unmittelbaren Reaktionen eines Menschen auf eine Aussage oder Situation geben demnach meist das Urteil vor. Das bewusste Denken liefert schließlich nachträglich die Begründung zu dem, was die Affekte vorgegeben haben. Eine aufwühlende Situation in einer Fremdsprache zu bewerten, so argumentieren die Psychologen um Costa nun, reduziert deren Emotionalität, erhöht zugleich die kognitive Beanspruchung und weckt damit das rationale Denken
 
Unter diesen Umständen rangen sich die Probanden von Costa eher zur utilitaristischen Entscheidung durch, den Mann neben sich von der Brücke zu stoßen. In einem weiteren Test unterzogen die Psychologen ihre Probanden Tests, in denen das rationale Denken getestet wird. Dabei schnitten die Teilnehmer besser ab, wenn diese Aufgaben in einer Fremdsprache gestellt wurden. In ihrer Muttersprache fielen sie leichter auf intuitiv naheliegende Antworten herein, die sich aber bei genauerem Hinsehen als falsch entpuppten. Ähnliche Ergebnisse sind aus Studien bekannt, in denen Aufgaben in unterschiedlich lesbarer Schrift präsentiert wurden. Je mieser das Schriftbild war, desto eher fielen Teilnehmern logische Fehler auf. Der Mensch muss wohl gelegentlich zum Nachdenken gezwungen werden, sonst vertraut er allzu leicht auf den ersten Gedanken.

 
Nota
 
Na, Gott sei Dank. Moralität ist keine Gewinn- und Verlustrechnung. Die mag rechtlichen Erwägungen zu Grunde liegen: Im Rechtsverhältnis, das der Fiktion nach auf einem Vertrag beruht, geht es darum, was der eine dem andern schuldet; alle gegenseitig. Es geht um den Vorteil hier und die Kosten da. Gewiss spielt Mehr oder Weniger da eine Rolle. 
 
Bei der Moralität geht es nur darum, was ich mir schulde. Kann ich das auf mein Gewissen nehmen? Dass es mich hinterher beißt, ist klar, aber das muss ich vielleicht in Kauf nehmen. Etwa, weil es andersrum viel tiefer bisse? Geht es also doch um mehr oder weniger, nur diesmal rein egoistisch? 
 
Es ist ein Fehler, an Fragen der Moralität mit Begriffen heranzugehen. Ethik ist eine Unterart der Ästhetik. Da gibt es nichts zu begreifen. Da gibt es nur Anschauung und unmittelbares Zustimmen oder Ablehnen. In ethischen Fragen vernünfteln ist unmoralisch. Der Laborversuch von Albert Costa ist antimoralisch, und das erlaubt er sich nur, weil er selber unmoralisch ist: "Das Urteil sollte nicht davon abhängen, ob man über das Leben des dicken Mannes oder von el hombre grande nachdenkt. Aber leider ist [für die Probanden] genau das relevant." 
 
Die Probanden sind eben moralischer als der empirische Psycholog. Ihr Urteil - 'Das tu ich nicht!' - steht unmittelbar fest. Dann lassen sie sich von Nützlichkeitsfragen irritieren, aber die weisen sie von sich und kehren zu ihrem ersten, ursprünglichen Urteil zurück: Nein, das tu ich nicht. Doch werden sie durch den Gebrauch einer Fremdsprache aus dem unmittelbaren Anschauungsmodus herausgerissen und auf eine höhere Reflexionsebene verführt, dann haben die utilitaristischen Anfechtungen länger eine Chance. Das und mehr nicht mag Costas Versuch bewiesen haben. Die Lehre: Stell dich moralischen Herausforderungen wann immer möglich in deiner Muttersprache und lass dich aufs Kalkulieren gar nicht erst ein.
 
Im II. Weltkrieg wurden im Osten Wehrmachtssoldaten zu Judenerschießungen abkommandiert. "Hätte ich es nicht getan, hätte es ein anderer getan. Ich hätte nicht Einem das Leben gerettet; aber wer weiß, was sie mit mir gemacht hätten." Und da hat er eben seine Pflicht getan. Befehlsnotstand hieß das hinterher.
 
Merke: Es ist nicht ein Fall bekannt, wo ein Wehrmachtsangehöriger bestraft worden wäre, weil er sich geweigert hat, Juden zu erschießen. Es gab gar kein Dilemma, sondern nur feige Klugheit. 
JE
 
 

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