Montag, 3. Februar 2014

Max Weber.

1917
aus NZZ, 29. 1. 2014

Fachmensch mit Geist
Jürgen Kaube zeichnet Max Webers «Leben zwischen den Epochen» nach

von Stefan Breuer · 2014 jährt sich nicht nur zum hundertsten Mal der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Auch des 150. Geburtstages von Max Weber ist zu gedenken. Dass diese Koinzidenz mehr ist als eine bloss kalendarische, ist der Leitgedanke der Max-Weber-Biografie von Jürgen Kaube. 1914 ging das «lange 19. Jahrhundert» zu Ende, das mit Recht als bürgerliche Epoche gilt. Vier Jahre später war, um nur von Deutschland zu reden, das Bürgertum ökonomisch aufgezehrt, der Nationalstaat in der Krise, der Zweifel überwältigend, ob die bürgerliche Denk- und Lebensform noch für die Zukunft stand. Was sich am Horizont abzeichnete, war eine Ordnung, in der es wohl die vom Bürgertum geschaffenen Apparate in der Industrie und der staatlichen Verwaltung geben würde, jedoch ohne ein Subjekt, das sie zu leiten vermochte: ein Kapitalismus ohne herrschende Klasse, «Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz», wie sie die Schlusspassagen von Webers «Protestantischer Ethik» heraufbeschworen hatten.

Bürgerlichkeit

Für die Aufgabe, diesen epochalen Wandel verständlich zu machen und zugleich zu erklären, war Max Weber besonders geeignet. Er war nach allen nur denkbaren Kriterien - Besitz und Bildung, Lebensstil und politische Stellung - ein Mitglied der bürgerlichen Klassen und verkörperte wie nur wenige seiner Generation deren Anspruch, der ökonomischen Dominanz auch die politische folgen zu lassen. Zugleich war er in all diesen Feldern jedoch, nach den Massstäben der Zeitgenossen, ein Gescheiterter.

Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. 
Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 495 S., Fr. 37.90. 

«Kein Buch, keine Kinder, kein Krieg, kein Vermögen, kein Einfluss» - auf diese lapidare Formel bringt Kaube die äussere Seite dieser Lebensbilanz. Mehr noch: Wenn Bürgerlichkeit, wie es Leopold Ziegler einmal ausgedrückt hat, in dem Versuch besteht, «das Leben als solches vor den Einwirkungen einer Dämonie zu retten», die das Individuum im Extrem «mit Schändung, Wahnwitz und Tollheit» bedroht, dann war Max Weber auch in dieser Hinsicht ein Gescheiterter, zumindest jemand, der sich wie sein Antipode Stefan George an den Rändern der bürgerlichen Welt bewegte. 

Damit ist nicht nur die manifeste Depression gemeint, die Weber um die Jahrhundertwende durchlitt, sondern auch deren latente Erscheinungsform, die sich in masslosem Konsum von Nahrungsmitteln, Alkohol und Büchern äusserte, später auch in Reisewut sowie einer hochgradigen Reizbarkeit gegenüber seinen Mitmenschen - Kaube nennt Weber einen «Wutbürger» -, bei gleichzeitiger Liebesunfähigkeit in Intimbeziehungen, die bis in sein fünftes Lebensjahrzehnt anhielt und ihn nur zu oft in Verzweiflung über sich selbst ausbrechen liess.

Das alles wird ebenso klar wie schonungslos berichtet, jedoch nicht um seiner selbst willen oder um das Genie auf diese Weise in die Alltagswelt herabzuziehen, sondern um die Erkenntnischancen deutlich zu machen, die sich aus dieser Position gleichzeitiger Zugehörigkeit und Fremdheit ergaben - muss doch die eigene Welt einem gehörig fremd geworden sein, um sie mit einem derart nüchternen und distanzierten Blick zu betrachten, wie Weber dies getan hat. Obwohl er noch zu Beginn seiner Karriere alles daransetzte, das Bürgertum seiner Nation zur Herrschaft fähig zu machen, tat er dies doch bereits im Bewusstsein der Möglichkeit, es könne dafür bereits zu spät sein. Jahre später, anlässlich der ersten Revolution in Russland, drängte er die liberalen Kräfte, die Gunst des historischen Augenblicks zu nutzen, den bürokratischen Zentralismus zu bekämpfen und an der «Durchdringung der Massen mit dem alten individualistischen Grundgedanken der 'unveräusserlichen Menschenrechte' zu arbeiten», weil «alle ökonomischen Wetterzeichen» nach der «Richtung zunehmender 'Unfreiheit'» wiesen. Die Epoche der freien Konkurrenz erschien dem Analytiker schon früh als Übergangsstadium zu einem eisernen Zeitalter, das durch Monopole, Kartelle, Syndikate und staatswirtschaftliche Organisationen gekennzeichnet sein würde.

Zu seinen Einsichten gelangt Kaube, der für das Ressort Geisteswissenschaften der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» verantwortlich zeichnet, weil er das im engeren Sinne Biografische soziologisch nutzt und nicht psychologisch, weil er jeden Anschein vermeidet, als besitze er den Schlüssel zu den Geheimkammern von Webers Seele. Besonders gelungen ist deshalb das Kapitel über jene Phase, in dem die «psychologische Versuchung» wohl am grössten ist: Webers Zusammenbruch. Anstatt diesen aus ebenso wohlfeilen wie willkürlichen Vermutungen abzuleiten - dem Vaterkonflikt, den Eheproblemen, einer sadomasochistischen Triebstruktur -, stellt Kaube einfach das wirre Durch- und Gegeneinander der Diagnosen und Therapievorschläge dar und macht deutlich, welches Ausmass an Ratlosigkeit unter den Beteiligten dieser Krise herrschte, wie wenig in ihr Ursachen und Wirkungen, Gründe und Folgen unterscheidbar waren und wie sehr der Patient in seinen Qualen auch neueste Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet auszubaden hatte: das Pro und Contra der verschiedenen Deutungsmuster, vom Neurasthenie-Konzept bis zur psychoanalytischen Tiefenhermeneutik. Der Biograf sieht schlechterdings keine Grundlage, sich nachträglich über diese Ratlosigkeit zu erheben, und schiebt damit allen Versuchen, auch Webers Werk psychologisch zu deuten, einen Riegel vor.

Das Leben eines Soziologen, zu dem Weber schliesslich nolens volens wurde, ist in der Tat in erster Linie sein Werk - in diesem Fall allerdings ein hochgradig fragmentiertes Werk, das zu Webers Lebzeiten aus zwei akademischen Qualifikationsschriften und zahllosen weit verstreuten Aufsätzen, Vorträgen und unvollendeten Manuskripten bestand, denen ein Mindestmass an Kohärenz abzugewinnen seit Jahrzehnten ganze Heerscharen von Forschern nährt. Kaube bewältigt diese Aufgabe mit einer Souveränität, der man in jeder Zeile anmerkt, dass hier nicht nur ein Soziologe vom Fach schreibt, sondern auch ein professioneller Wissenschaftsjournalist, der es versteht, zwischen der Sprache des Spezialisten und den Anforderungen eines aus Laien bestehenden Publikums zu vermitteln.

So muss es sein

So bietet das Buch sachkundige Überblicke über sämtliche Themen, die Weber in den verschiedenen Phasen seines Lebens beschäftigten, von den Problemen der ostelbischen Landwirtschaft über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums, die Börse und die Entstehung des Kapitalismus bis hin zur Soziologie der Herrschaft. Dies alles nie in jenem Wiederkäuer-Modus, der so viele Einführungen kennzeichnet, vielmehr unter steter Einbettung der Themen in den jeweiligen Diskussionsstand und dort, wo es nötig ist, auch mit eigenem, pointiertem Urteil. Die neuere Organisationssoziologie, heisst es etwa, sei wohl von Weber angestossen, mit der Maschinen-Metapher aber auf ein falsches Gleis geschoben worden, von dem sie erst mühsam wieder habe heruntergeholt werden müssen. Ihre heutige Gestalt habe mehr mit Kafka als mit Weber gemeinsam.

Es ist selten, dass man ein Buch mit dem Eindruck aus der Hand legt: So muss es sein. Hier ist es der Fall. Hat man bei der Lektüre von Marianne Webers 1926 erschienenem «Lebensbild» ihres Mannes stets einen Übermenschen vor Augen, bei der von Joachim Radkaus Biografie (von 2005) bisweilen eher das Gegenteil, so ist es Jürgen Kaube gelungen, Max Weber wieder in die Mittellage zu bringen und dessen wissenschaftlichem Werk die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen. Diese Biografie muss unter die Glanzstücke des Genres gerechnet werden.

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