Samstag, 15. Februar 2014

Heute ist Galileos Geburtstag.

aus scinexx

In Galileis Gedankenwerkstatt
Was die "Discorsi" über den Gelehrten verraten

Als der große amerikanische Astrophysiker Subrahmanyan Chandrasekhar beschloss, einen der Gründungstexte der modernen Physik in die Sprache der heutigen Wissenschaft zu übersetzen, entschied er sich für Newtons „Principia“ von 1687. Galileis Hauptwerk, seine 1638 erschienenen „Discorsi“, hätten dieser zweifelhaften Übung wohl ein noch weitaus widerspenstigeres Material geboten. Zu weit entfernt von heutiger Wissenschaft sind ihr Inhalt und ihr Stil.

Ungewöhnliche mathematische Sprache

Ein moderner Leser hat sogar Schwierigkeiten, in den "Discorsi" die Gesetze der modernen Physik überhaupt wiederzufinden, die sich mit Galileis Namen verbinden. Selbst das Fallgesetz und die Behauptung, dass die Kurve, die ein fliegendes Geschoss beschreibt, eine Parabel ist, findet man erst, nachdem man sich in der komplizierten Struktur zurechtgefunden und an eine ungewöhnliche mathematische Sprache gewöhnt hat.


Der Dialog gliedert sich in vier Tage, einer der Dialogpartner liest den anderen aus einem systematischen Traktat über die Bewegung und ihre Gesetze vor. Galileis Bewegungslehre ist eine der beiden neuen Wissenschaften, denen sein Buch gewidmet ist. Sie wird im dritten und vierten Tag des Dialogs vorgestellt. Die andere neue Wissenschaft, im ersten und zweiten Tag diskutiert, handelt von der Stabilität der Materie. Darüber hinaus geht es in den Dialogen um naturphilosophische Fragen und praktische Anwendungen.

Galileis „Discorsi“ wirken bruchstückhaft und unsystematisch, auch in ihren Begründungen wissenschaftlicher Behauptungen. Gerade das aber macht sie für Wissenschaftshistoriker so faszinierend. Sie bieten uns die Momentaufnahme einer Umbruchssituation. Galilei hat keine umfassende Theorie der Mechanik, die die aristotelische Naturphilosophie überwindet. Aber er hat in einem langwierigen Forschungsprozess wesentliche Einsichten errungen, aus denen erst seine Nachfolger die moderne Mechanik konstruieren sollten.

Beweisführung – oder doch Versuch und Irrtum?

Woher stammen Galileis Einsichten? Die traditionelle Antwort ist: aus der Anwendung der von ihm erfundenen wissenschaftlichen Methode, die angeblich in der Kombination von mathematischen Methoden und Experimenten besteht. Diese Antwort aber hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Gerade die Dialoge geben Hinweise auf den wirklichen Ursprung von Galileis Einsichten, auch weil er in der Maske seiner Figuren oft über eigene frühere Überzeugungen und Irrtümer spricht.

Zugleich offenbaren die Dialoge, welche Argumente seine Zeitgenossen überzeugend fanden und welches ihr gemeinsamer Wissenshintergrund war. Dabei zeigt sich, dass die aristotelische Naturphilosophie eine Schlüsselrolle für die Formulierung von Grundbegriffen der vorklassischen Mechanik Galileis und seiner Zeitgenossen spielte. Ein Beispiel ist die Unterscheidung zwischen natürlicher und gewaltsamer Bewegung, die die heutige Physik nicht mehr kennt.

Neue Technik – neue Denkweisen

Wie aber konnte Galilei auf dieser Grundlage Einsichten wie jene in die Parabelgestalt der Wurfbewegung erreichen, die nicht mehr in den aristotelischen Rahmen passen? Auch hier legen die „Discorsi“ mit ihrer ungewöhnlichen literarischen Form eine Antwort nahe: die zeitgenössische Technologie stellte eine Herausforderung für die wiederbelebten Theorien der Antike dar, die den Wissenshintergrund von Renaissance-Wissenschaftlern wie Galilei bildete.

Es zeigt sich, dass Galileis langjährige Bemühungen, technische Themen wie Pendelschwingungen, die Flugbahn einer Kanonenkugel oder die Bruchfestigkeit von Schiffen und Gebäuden mit Hilfe dieser Theorien zu verstehen, der Schlüssel für seine Durchbrüche war. Er selbst kannte offenbar die Wurzeln seiner Wissenschaft. Immer wieder geht er in seinen Dialogen auf die Technologie seiner Zeit ein. Die „Discorsi“ beginnen sogar mit einer Hommage an die Hochtechnologie seiner Zeit und eines ihrer Zentren, das venezianische Arsenal:

„Die unerschöpfliche Tätigkeit Eures berühmten Arsenals, Ihr meine Herren Venezianer, scheint mir den Denkern ein weites Feld der Spekulation darzubieten, besonders im Gebiet der Mechanik...” In seinen „Discorsi“ gibt uns Galilei einen Einblick in seine eigene Gedankenwerkstatt. 


Nota.

Vielleicht ist der vierhundertfünfzigste nicht rund genug, um heute die Seiten der Blätter mit Geburtstagsartikeln zu füllen. Aber scinexx widmet Galileo immerhin ein ganzes Dossier. Doch Anlass genug, den Platz Galileos in der Geschichte der Wissenschaft - nicht dieser oder jener, sondern der Wissenschaft zu diskutieren, ist das Datum auch für sie nicht. Der obige Beitrag hätte das sein können, ist es aber nicht geworden. 

In der Tat geht es dabei gar nicht um Experimente und Erfahrungswissen. Sondern es geht um die Auseinandersetzung Galileos mit der zu seiner Zeit herrschenden Naturphilosophie des Aristoteles. Doch nicht "die Technik" war Galileos Streitross. Sie wird ihm wohl die Augen für das Problem geöffnet haben. Aber die grundstürzend neue Auffassung, dass in der Natur nicht, wie bei Aristoteles, jedes Ding seiner ureigensten inneren Bestimmung ("Entelechie") folgt, sondern vielmehr einem allgemein, überall und für jeden gültigen Naturgesetz unterworfen ist, hätte er nicht entwickeln können, hätte er mit Aristoteles nicht energisch gebrochen und wäre er nicht von dessen 'Entelechien' zu Platos allgegenwärtigen "Ideen" zurückgekehrt - nur unter dieser Voraussetzung konnte ein Versuch nämlich irgendetwas beweisen! Und nur unter dieser Voraussetzung war es möglich, die Mathematik zum Maß der Naturbeobachtung zu machen; weil nämlich nur sie die Naturgesetze formulieren kann. 

Meine Gewährsleute: Ernst Cassirer und Alexandre Koyré.

Deren Hauptquelle sind aber nicht die Discorsi, sondern der frühere Sagittario.
JE

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