Samstag, 8. Februar 2014

Alles nur relativ?

aus NZZ, 8. 2. 2014

Keine Angst vor der Wahrheit
Der amerikanische Philosoph Paul Boghossian streitet wider Relativismus und Konstruktivismus

von Andrea Roedig 

Relativismus und Konstruktivismus bilden in weiten Teilen der Kultur- und Sozialwissenschaften eine methodologische Hintergrundüberzeugung. Der amerikanische Philosoph Paul Boghossian sieht darin eine «Angst vor der Wahrheit», die er den Lesern seines Buches gleichen Titels zu nehmen versucht. 

In den Kulturwissenschaften, in den Gender-Studies, aber auch in weiten Zweigen der Sozialforschung gehört die Annahme einer «sozialen Konstruktion der Wirklichkeit» zur Geschäftsgrundlage, dem Common Sense jedoch ist diese Weltsicht nur sehr bedingt zu vermitteln. In diese Situation trifft Paul Boghossians Buch «Angst vor der Wahrheit». Der an der New York University lehrende Philosoph will für ein breiteres Publikum die Motive des Sozialkonstruktivismus benennen und das Für und Wider prüfen.

Boghossian weist auf die tiefe Kluft hin, die sich in den «science wars» zwischen natur- und kulturwissenschaftlicher Weltauffassung geöffnet hat, und betont, dass der postmodern inspirierte Relativismus die gesamten Geistes- und Sozialwissenschaften ergriffen habe, mit Ausnahme der Bastion der analytischen Philosophie, in deren Tradition er selber steht. Die Positionen, mit denen sich das Buch vornehmlich beschäftigt, sind älteren Datums, vor allem Richard Rorty, aber auch Ludwig Wittgenstein und Thomas Kuhn dienen als Folie der Auseinandersetzung. Ganz in analytischer Manier unterscheidet Boghossian drei verschiedene Formen des Relativismus: Der «Tatsachenrelativismus» behaupte im Geiste Kants, dass die Gegenstände der Welt nicht an sich, sondern immer nur über unsere Beschreibung zugänglich seien. Der «Berechtigungsrelativismus» bestreite, dass eine Information notwendig zu einer bestimmten Meinung berechtige. Und eine dritte Form des Relativismus stelle die Möglichkeit rationaler Begründung generell in Abrede. Alle drei Positionen präsentiert Boghossian ausführlich, um sie dann mittels logischer Operationen auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Dem Tatsachenrelativismus weist er einen infiniten Regress nach. Die beiden anderen Formen des Relativismus überführt er der Selbstwidersprüchlichkeit und der Inkohärenz.



Interessant an Boghossians Vorgehen ist, dass er der Gegenseite zuweilen viel Kredit einräumt. Vor allem die Auffassung, es könne zwischen zwei einander widersprechenden «epistemischen Systemen» keine letzte Entscheidung zugunsten einer Wahrheit geben, führt Boghossian so plausibel aus, dass man immer nur nicken möchte, mit Wittgensteins Satz im Kopf: «Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen können, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.» Letztlich läuft jede von Boghossians Argumentationen darauf hinaus, zu zeigen, dass relativistische Annahmen, wenn man sie nur sorgfältig genug auseinandernimmt, Inkohärenzen aufweisen. Wir kämen nicht umhin, von absoluten Tatsachen und objektivem Wissen auszugehen, so lautet die Botschaft. Epistemische Grundsätze und logische Schlussfolgerungen gälten universal, und so kann Boghossian mit ihrer Hilfe fleissig alle möglichen Relativismen als Scheingebilde entlarven. Das Problem ist allerdings, dass «Angst vor der Wahrheit» zwischen den Traditionen bzw. Strömungen nicht vermitteln kann. Das Laienpublikum, an das sich das Buch - wie es behauptet - auch wendet, wird den mitunter ermüdenden analytischen Begriffsbaukasten-Spielen vielleicht über weite Strecken folgen, doch dann womöglich stutzen, weil die Widerlegung der einzelnen Relativismen immer sehr knapp ausfällt und mitunter wenig einleuchtet.


Boghossian kämpft mit altbekanntem Geschütz in altbekannten Gräben, seine Argumente werden das Publikum ausserhalb der sprachanalytischen Bastion daher kaum überzeugen. Dabei stimmt aber durchaus etwas an seinem Verdacht, die Annahme, alles sei «konstruiert», lasse eine «Angst vor der Wahrheit» erkennen. Es wäre für den Konstruktivismus an der Zeit, feiner zu differenzieren, und vielleicht ist auch eine «unaufgeregte Aufklärung», wie sie Markus Gabriel in seinem instruktiven Nachwort fordert, an der Zeit. Gabriel geht das Problem wesentlich stärker gegenwartsbezogen und pointierter an als Paul Boghossian.


Die These von der sozialen Konstruktion war nur interessant und als Provokation wirksam in ihrer vernunftwidrigen Radikalität. Nur so konnte sie auch die Bedeutung erlangen, die sie noch immer hat. Jetzt aber müssten die Verfechter eines Sozialkonstruktivismus sich den Argumenten eines erstarkenden Realismus stellen und selbst fragen, wie weit denn ihr Relativismus reicht. Dies wäre allein deshalb schon notwendig, um nicht in der nächsten Runde unreflektiert und der Abwechslung halber - im Nachvollzug des «material turn» - ins andere Extrem zu kippen und nun von den Dingen, der «Dingkultur» und einer Materie zu schwärmen, die ohne den Menschen auskomme.

Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus. Aus dem Amerikanischen von Jens Rometsch. Mit einem Nachwort von Markus Gabriel. Suhrkamp, Berlin 2013. 164 S., Fr. 22.90.


Nota.

Dass sich ohne die Prämisse, dass Wahrheit sei, nichts Vernünftiges denken läst, bedeutet noch nicht, dass es sie wirklich gibt.
JE 

 

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