Freitag, 13. Dezember 2013

Ich als Datensatz.

aus NZZ, 13. 12. 2013


Das Informationsparadigma wird unser Menschenbild verändern
Wer immer nur nach den verantwortlichen «bösen» Datensammlern sucht, hat die Dimension der laufenden Datenskandale noch nicht begriffen. Je mehr Computer und Algorithmen die Steuerung des modernen Lebens übernehmen, desto mehr werden die Regeln des Individualismus und der herkömmlichen Politik ausser Kraft gesetzt.  
 
Von Stephan Wehowsky

Der Aufruf zur Verteidigung der Demokratie im digitalen Zeitalter vom vergangenen Dienstag wurde von mehr als 560 Schriftstellern aus der ganzen Welt unterzeichnet. Juli Zeh und Ilija Trojanow, die das Ganze initiiert haben, vermieden es sorgfältig, bestimmte Geheimdienste oder andere Akteure namentlich zu nennen. Sie wollten damit vermeiden, dass sie potenzielle Unterzeichner abschrecken. Der Aufruf richtet sich aber auch nicht an bestimmte Politiker wie zum Beispiel Angela Merkel, an die die beiden Initianten einige Zeit vorher schon einen offenen Brief geschrieben hatten. Dadurch bekommt der Aufruf eine merkwürdigere Struktur: Es fehlt ein Adressat. Dieser Mangel kennzeichnet wiederum genauer, als viele Worte und Erklärungen es vermöchten, das Dilemma, das die nach und nach bekanntwerdenden Datenskandale zum Ausdruck bringen.
 
Zweierlei Perspektive

Man kann dieses Dilemma aus zwei Perspektiven betrachten: der Perspektive der Bürger und der Perspektive der Datensammler. Wie der Aufruf zeigt, wissen die Bürger inzwischen gar nicht mehr, an wen sie sich wenden sollen. Zwar liegt es nahe, sich als Erstes an jene Politiker zu wenden, die man selber gewählt hat. Aber diese Politiker sind offenbar nicht mehr die souveränen Herren, die den Geheimdiensten kurzerhand Befugnisse und Geld entziehen können. Sie können Geheimdienste nicht einfach schliessen wie eine überflüssig gewordene Dienststelle. Aus der Perspektive der Geheimdienste gibt es auch keine klaren Grenzen mehr. Der potenzielle Feind steht nicht mehr jenseits der Landesgrenzen, er lässt sich nicht auf bestimmte ethnische oder nationale Gruppen eingrenzen, und der Übergang zwischen harmlosen und gefährlichen Kommunikationen oder Aktivitäten ist auch fliessend. Geheimdienste bewegen sich in einem Meer der Unbestimmtheit.

Im Zusammenhang des Aufrufs zur Verteidigung der Demokratie hat der Schriftsteller T. C. Boyle eine Formulierung gefunden, die der heutigen Situation relativ nahekommt: «Während wir schliefen, haben die Maschinen die Welt übernommen, genau wie es die alten Science-Fiction-Filme voraussagten.» Statt «Maschinen» müsste man besser sagen: «Informationstechnologien» oder noch genauer: «das Informationsparadigma». Erst dann wird nämlich klar, warum unsere überkommenen Vorstellungen von Privatsphäre und der Politik, die zumindest in freiheitlichen Ländern diesen individuellen Raum zu schützen habe, unserer Zeit nicht mehr gerecht werden.

Denn das Informationsparadigma löst die Privatheit ebenso auf wie das Individuum und die Regeln der herkömmlichen Politik. Dieses Paradigma hat eine ähnliche gesellschaftliche Wucht wie einstmals die Einführung der Geldwirtschaft. Denn es verändert unsere herkömmlichen Wahrnehmungen dadurch, dass die neue Währung der Information bisherige Konventionen ebenso sprengt wie das Geld, das die Grenzen zwischen Ständen relativiert und zuletzt aufgehoben hat.

Die Autoren des Aufrufs prangern die Tatsache an, dass mit der Sammlung der Daten von unseren Kommunikationen weitreichende Schlüsse auf unser gegenwärtiges und künftiges Verhalten möglich sind. Wir sind, um es zuzuspitzen, eine komplexe Ansammlung von Daten, die Analysen und Vorhersagen erlauben. Dahinter verflüchtigt sich das, was in der europäischen Tradition als «Subjekt» bezeichnet wurde. Das Subjekt als Träger der Freiheit, der Würde und der Unantastbarkeit der Person ist zur alteuropäischen Fiktion geworden.
 
Unverstandene Folgen

Jeder, der Online-Anbieter wie Amazon nutzt, kann dies im Kleinen beobachten. Kaum hat er ein Produkt gekauft oder auch nur angeschaut, werden ihm diverse Angebote gemacht, die «dazu passen». Das ist noch wunderbar harmlos im Verhältnis zu ganz anderen Möglichkeiten. Das amerikanische Unternehmen «23andMe» entschlüsselt Genome für 99 Dollar. Es genügt, eine Speichelprobe einzuschicken, um dann genau zu erfahren, wie hoch das Risiko für diverse Krebsarten, Geisteskrankheiten oder einen Schlaganfall ist. Wir haben es damit zu tun, dass der Kern des Menschen aus Informationen besteht, die in den Genen gespeichert sind.

Auch wenn dieses Verfahren noch etwas avantgardistisch anmutet, kennen wir es in anderer Gestalt schon lange: die pränatale Diagnostik. Sie bietet den künftigen Eltern die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, ob sie ein Kind mit vorgeburtlich erkennbaren schweren Krankheiten haben wollen oder nicht. Die Anwendung solcher Verfahren wäre völlig undenkbar, wenn der Mensch nicht unter medizinisch-naturwissenschaftlichen Informationsgesichtspunkten betrachtet und bewertet würde. Betrachtet man ein Kind als «Geschenk Gottes», kommt man gar nicht auf die Idee, es vor der Geburt gentechnisch analysieren zu lassen.

Das Informationsparadigma als Schlüssel zur Erfassung jedes Einzelnen, aber auch des Verhaltens von Gruppen hat weitreichende gesellschaftliche Folgen. Denn es ist gar nicht möglich, diese Daten unter der Prämisse für Vorhersagen zu verwenden, dass der Mensch frei oder altruistisch ist. Er muss als Nutzenoptimierer als Basis für die Algorithmen bestimmt werden. Es liegt also nicht an den Geheimdiensten, sondern am Informationsparadigma selbst, dass die Freiheit des Menschen wegdefiniert wurde.

Die Skandale um die Ausspähung aller Bürger hängen nicht in erster Linie mit skrupellosen Kompetenzüberschreitungen einzelner Geheimdienste zusammen, sondern mit einer Veränderung des Menschenbildes auf der Basis des Informationsparadigmas. Was wir jetzt lernen müssen, ist, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Man kann das Ich zur Exklave machen, indem man bestimmte Technologien und Netzwerke nicht nutzt. Das kann aber immer nur die Lösung für einige wenige sein. Und eines ist sicher: Wir werden noch lange nach den richtigen Antworten suchen müssen.

Stephan Wehowsky ist Redaktor bei der Internetzeitung «Journal21».

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