Montag, 18. November 2013

Medical Humanities.


aus NZZ, 11. 11. 2013                                                                 Luke Fildes, The Doctor

Der menschliche Mediziner
Was Ärzte während ihrer Ausbildung von den Geisteswissenschaften lernen können 


von Daniela Kuhn

Patienten erleben Ärzte oft als wenig kommunikativ und empathisch. Das hat mit Zeitdruck zu tun, aber auch mit einem naturwissenschaftlich reduktionistischen Menschenbild.

Patienten suchen das Spital oder den Arzt auf, weil sie körperlich oder psychisch in Schieflage geraten sind. Oft ist beides zugleich der Fall, und manchmal kommt existenzielle Not als Folge dazu. In dieser Situation benötigen sie eine Diagnose und, so weit möglich, eine Therapie - doch das ist nur das halbe Bild. Denn wer als Notfall seit Stunden in der Augenklinik wartet, sucht in der Person des Arztes auch Qualitäten, die den Menschen vom Roboter unterscheiden: Zuwendung, Empathie und Aufmunterung. Sobald sich ein Patient wahrgenommen fühlt und das Gefühl erhält, im Arzt einen Verbündeten gefunden zu haben, entspannt sich die Gefühlslage. Und das ist viel, zumal Studien gezeigt haben, dass im Prozess der Selbstheilung die Psyche eine grosse Rolle spielt. In diesem Sinne ist das Vertrauen der Patienten vielleicht sogar die wichtigste Arznei.

Der Mensch als Maschine

Selbstverständlich ist diese Arznei indes nicht. Im Gegenteil: Gespräche zwischen Arzt und Patient, in denen auch Aspekte zur Sprache kommen, welche die körperlichen Symptome nur indirekt betreffen, sind eher die Ausnahme. Nicht selten erhalten Patienten den Eindruck, der Arzt bleibe als Mensch unbeteiligt. Etwa wenn es darum geht, bedrohliche Diagnosen mitzuteilen oder die Krankheit in die Lebenssituation des Patienten einzuordnen.

Tendenziell waren empathische Ärzte wohl nie in der Mehrheit, lässt sich mutmassen, doch in den letzten Jahren haben zusätzlich die bürokratischen Abläufe zugenommen. Sie rauben einen grossen Teil der Zeit, die einst nicht am Computer, sondern im Gespräch mit dem Patienten verbracht wurde. Liegt es somit vor allem am System, wenn ein kranker Mensch so funktional behandelt wird wie ein Auto, dessen Motor repariert werden muss?

«Vereinfacht gesagt geht die Schulmedizin von einem naturwissenschaftlichen, reduktionistischen Menschenbild aus. Sie sieht den Menschen als chemisch-biologische Maschine», sagt Christian Hess, der bis zum Sommer letzten Jahres Chefarzt am Spital Affoltern war. Er und die Psychotherapeutin Annina Hess-Cabalzar haben dort während über zwanzig Jahren ein Spitalmodell etabliert, das Schulmedizin und Geisteswissenschaften verbindet. Diese sogenannte Menschenmedizin trägt körperlichen, geistigen und seelischen Aspekten Rechnung, das heisst, auch Psychotherapie, Kunst, Philosophie, Ethik, Theologie und Sozialarbeit spielen darin eine Rolle. «Es braucht die Bescheidenheit, dass es keinen Wissensprimat gibt und sich das Entscheidende im Krankheitsverlauf ändern kann», sagt Christian Hess. Mit anderen Worten: Alle Beteiligten tragen in diesem Modell Verantwortung, sie sind sich zugleich auch ihrer eigenen Grenzen bewusst. Christian Hess und Annina Hess-Cabalzar legten auch Wert auf die körperliche Berührung, die immer mehr aus dem ärztlichen Repertoire verschwindet, obwohl sie ein grosses Heilpotenzial birgt.

Angesichts der medizinischen Forschung, die hauptsächlich auf neue Technologien und auf hohe Spezialisierung setzt, wirkt das ganzheitliche Konzept von Christian Hess und Annina Hess-Cabalzar wie aus einer anderen Zeit. Doch könnte dieser Ansatz gerade in den nächsten Jahrzehnten vermehrt in den Fokus rücken, da es immer mehr alte Menschen geben wird, die an mehreren Krankheiten leiden. Bei diesen sogenannt multimorbiden Patienten können nicht alle verfügbaren Therapien addiert eingesetzt werden. Es braucht die Klärung, was zur Lebenssituation passt. Auch in Bezug auf künftige Gentest-Analysen dürfte die ganzheitliche Betrachtung wichtiger werden, zumal Gentests ohne eine Einordnung einem Orakel gleichkommen.

«Bei einem Hirnschlag sehen wir oft drei Phasen», sagt Annina Hess-Cabalzar: «Dem akutmedizinischen Handeln folgt die Pflege, die Physio- und Ergotherapie. Danach müssen die Patienten ihre Krankheit seelisch aufarbeiten. In dieser dritten Phase von Abschied und Neubeginn, in der wir auch das Umfeld der Patienten einbezogen haben, spielt Kunst oft eine grosse Rolle.» Zusammenfassend meint Christian Hess: «Erst die geisteswissenschaftliche Arbeit macht die Behandlung zu dem, was sie sein kann.»

Kommen angehende Mediziner im Rahmen ihres Studiums mit Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt in Berührung? Die Antwort lautet: Ja, wenn auch noch immer zu wenig. Im Rahmen der Bologna-Reform wurde der aus den USA stammende Begriff Medical Humanities zwar an den meisten Universitäten eingeführt, die Gewichtung und der Inhalt der Veranstaltungen variieren jedoch stark. In der Regel umfassen sie einen Einblick ins Gesundheitssystem, in Ethik, Recht, Philosophie und Geschichte der Medizin. An den medizinischen Fakultäten Lausanne, Freiburg und Genf sind Medical Humanities mittlerweile etabliert. In Zürich werden vier geisteswissenschaftliche Module angeboten. Sie sind allerdings nicht obligatorisch, da sie im sogenannten Mantelstudium angeboten werden, das lediglich 15 Prozent des gesamten Studiums umfasst.

Geschichten erzählen

In Basel geht man einen anderen Weg. Im Sinne der «narrative-based medicine», die sich als Ergänzung zur evidenzbasierten Medizin versteht, werden die Studierenden an der Universität Basel in ihrer narrativen Kompetenz gefördert. «Sie sollen lernen, einer Geschichte gut zuzuhören und eine Geschichte selber gut zu erzählen», sagt Alexander Kiss, Chefarzt am Universitätsspital Basel. Beides sei im Arztberuf wichtig: «Besonders bei chronischen Erkrankungen, wo sich Arzt und Patient immer wieder begegnen und die Krankengeschichte daher gemeinsam konstruiert wird.»

Im ersten Jahr besuchen die Studierenden mindestens zwei von drei Veranstaltungen, in denen ein Film gezeigt wird, der anschliessend von einem Journalisten und einem Mediziner kommentiert wird. Nach dem israelischen Animationsfilm «Waltz with Bashir», der den ersten Libanonkrieg aus der Perspektive eines israelischen Soldaten zeigt, wurden beispielsweise die historischen Hintergründe erörtert und das Phänomen der posttraumatischen Belastungsstörung. Im zweiten Jahr werden den Studierenden Beispiele aus der Literatur nähergebracht, die mit Medizin zu tun haben. Im vierten Jahr schreiben sie während des Praktikums bei einem Hausarzt über eine schwierige Begegnung mit einem Patienten. «Jeder Arzt begegnet Patienten, die er nicht mag», sagt Kiss: «Die Studierenden sollen sich fragen, wieso die Interaktion mit dieser Person nicht funktioniert hat und was die negativen Gefühle bedeuten.» Auf ihren Bericht hin gibt der involvierte Hausarzt den Studierenden eine Rückmeldung.

«In der Medizin ist alles sehr eindeutig, aber Geschichten sind vieldeutig. Und genau darum geht es: um den Umgang mit Mehrdeutigkeit», sagt Alexander Kiss. Er wolle keine Mediziner «mit kaltem Blick» ausbilden, «die im Musikverein dann zu Tränen gerührt sind.» Sein Anliegen sei es vielmehr, den angehenden Ärzten aufzuzeigen, dass die Kunst zu den Themen Tod und Leiden, die auch den Arztberuf prägen, viel zu bieten hat.

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