Montag, 14. Oktober 2013

Die Zeit ist schon alt.

aus NZZ, 14. 9. 2013                                                                Sommaruga Fabio, pixelio.de

Ein jegliches hat seine Zeit
Warum der weise Salomon recht hat

Gemessene Zeit ist nicht dasselbe wie erlebte Zeit. Und das Zeiterleben der Menschen verändert sich im Laufe der - Zeit. Einige Überlegungen in kultursoziologischer und psychiatrischer Perspektive.

von Daniel Hell

Die Zeit bleibt ein Rätsel und damit ein zeitloses Thema. Augustinus schrieb in seinen «Bekenntnissen»: «Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiss ich es nicht.» Und eineinhalb Jahrtausende später gestand Martin Heidegger ein: «Man könnte meinen, der Verfasser von 'Sein und Zeit' müsste dies wissen [was Zeit ist]. Er weiss es aber nicht, so dass er heute noch fragt.»

Anders als für den sichtbaren Raum haben wir kein spezielles Sinnesorgan für die Zeit. Wohl deshalb versuchen wir die Zeit meist räumlich festzulegen, etwa als Wegstrecke, als Bewegung zum Beispiel eines Uhrzeigers von einem Punkt zu einem anderen. Aber das Zeiterleben deckt sich nicht mit der Gleichförmigkeit der gemessenen physikalischen Zeit. Eine Sekunde, die Fortbewegung des Sekundenzeigers um eine bestimmte Strecke, kann - subjektiv empfunden - lange dauern wie beim Berühren einer heissen Herdplatte oder kurz sein wie in der Liebe.

Wesenlos und allmächtig

In Thomas Manns «Zauberberg» heisst es kurz und bündig: «Die Zeit - ein Geheimnis, wesenlos und allmächtig.» Wir wissen zwar nicht genau, was Zeit ist, aber wir kennen die Probleme, die wir mit der Zeit - insbesondere mit Zeitplänen - haben und schaffen. Oft tun wir so, als ob es nur eine Zeit gäbe. Aber unser Zeiterleben ist nicht einheitlich, und nie war es in verschiedenen Kulturen und Epochen je gleichartig.

Wenn kulturgeschichtlich eine vormoderne, eine moderne und eine postmoderne «Zeit» unterschieden wird, hat dies auch mit verschiedenen Zeiterfahrungen der Menschen in diesen Epochen zu tun. Vor der Erfindung der mechanischen Uhr, also in der Vormoderne, war das Zeiterleben naturgebunden, an den Gestirnen und dem Sonnenstand orientiert. Nach und nach wurde es in der Moderne, die nicht zufällig auch als «Neuzeit» bezeichnet wird, immer stärker mit der Uhrzeit verknüpft. Heute ist es - postmodern - zunehmend von den elektronischen Medien abhängig.

Die Erfindung der Uhr hat die Menschen zeitlich besser aufeinander abgestimmt - synchronisiert - , aber aus einem naturgebundenen Rhythmus geworfen, nämlich aus dem Rhythmus von lichtem Tag und dunkler Nacht und aus dem Rhythmus unterschiedlicher Wochentage und Jahreszeiten. Das geschah nicht von heute auf morgen, und daran beteiligt waren weitere Technologien. Der gnadenlose Takt der Mechanik, der keine Abweichung kennt, ersetzte zunehmend den Rhythmus der Natur, der mehr durch ein stetes Auf und Ab als durch exakt messbare Zeitstrecken charakterisiert ist. So kommt der Frühling einmal früher und einmal später - oder wird gar «übersprungen» wie dieses Jahr. Anders eben der Takt, etwa der Takt eines Metronoms und natürlich der Takt der Uhr. Die Erfindung der Uhr hat es überhaupt erst ermöglicht, dass Leistungen nach dem Zeitmass beurteilt werden und damit die Beschleunigung zu einem Charakteristikum der Moderne wurde. Die Uhr hat uns immer weiter von der gelebten Zeit weggeführt. Das moderne Ideal «immer schneller, immer weiter» lässt Menschen weniger innehalten.

Zeitkrankheiten

Heute dürften die Grenzen der Beschleunigungsmöglichkeiten erreicht sein. Um die Leistungen trotzdem weiter zu steigern, wird jetzt versucht, mehreres zur gleichen Zeit zu tun. Dazu dienen technische Mittel wie Computer und Smartphones, die zum Beispiel zu telefonieren erlauben, während man im Netz surft. Zeit hat so nicht mehr nur eine Länge, ein Nacheinander, sondern - mit dem Multitasking - auch ein Nebeneinander. Die Zeit der elektronischen Postmoderne ist mithin eine verdichtete Zeit. Natürlich sind noch nicht alle in der digitalisierten Welt «angekommen». Viele, gerade Ältere, leben weiterhin im Takt der alten Uhren oder im Rhythmus der Jahreszeiten und der Festtage. Aber niemand kommt darum herum, sich mit den heute herrschenden Zeitverhältnissen auseinanderzusetzen. Die Frage ist, wieweit es Menschen gelingt, sich nicht von der Zeit beherrschen zu lassen, sondern mit ihr umzugehen.

Diese Frage ist besonders schwerwiegend für Menschen, die aus Krankheitsgründen ein von Gesunden verschiedenes Zeiterleben haben und deshalb stark mit den gegebenen Takten und Massen der Zeit ringen. So erleben beispielsweise manisch-depressive Menschen im depressiven Zustand einen «Stillstand der Zeit», mithin ein Tempo wie in filmischer Zeitlupe, während in manischer Verfassung für sie die Zeit wie im Zeitraffer rasend schnell vorübergeht. Depressiv dehnt sich ihnen somit die Zeit, manisch verkürzt sie sich ihnen. Einmal kommen sie nicht voran und sind ganz der Vergangenheit verhaftet. Dann wieder haschen sie nach der Zukunft, als ob das Vergangene keine Rolle spielt. Die Zeit hat sie im Griff, einmal in starrer Retrospektive, das andere Mal in drängender Prospektion.

Von der Vergangenheit oder von der Zukunft beherrscht zu werden - das kennen auch andere psychisch Kranke in besonders ausgeprägter Weise. So ist der melancholische Typus unter den depressiven Menschen stark in der Vergangenheit verhaftet, weil er alles in Ordnung halten muss und von Bekanntem und Gegebenem nicht lassen kann. Seine Gewissenhaftigkeit lässt ihn oft unter Schuldgefühlen leiden, die immer rückwärtsgewandt sind. Umgekehrt kommen angstgeplagte und zwangskranke Menschen in ihren Befürchtungen von dem, was zukünftig geschehen könnte, nicht los, so dass die Ungewissheit der Zukunft sie beherrscht. Diese Einschränkung auf einen bestimmten Zeitmodus - sei es Vergangenheit oder Zukunft - macht Menschen unfrei. Befreiend wirkt, wenn sie bewusster im Augenblick leben und von dorther sich auch bewusster auf Vergangenheit und Zukunft beziehen können.

Nun sind aber psychische Erkrankungen oft Extremformen des Alltäglichen. Es kann sich bei ihnen - wie unter einem Vergrösserungsglas - zeigen, was auch Gesunden zu schaffen macht: etwa Überdruss und Langeweile oder einengende Sorgen. Interessant ist, dass das Mittelalter eine mildere Form des heutigen Krankheitsbildes der Depression kannte, die sich in Überdruss, Trägheit und Langeweile äusserte. Sie wurde «Akedia» genannt und als Versuchung oder Laster verstanden, auch weil die damit verbundene Dehnung des Zeiterlebens zur Stimulationssuche Anlass gab.

Auch das maniforme - der Manie ähnelnde - Symptom eines Rasens der Zeit hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte. So wurde dieses Zeiterleben in der griechisch-römischen Antike mit Begeisterung, Ekstase und Kreativität in Verbindung gebracht. Nun haben aber weder die frühchristlichen Mönche, die das «Akedia»-Konzept entwickelten, noch die griechischen Philosophen, die eine Neigung zu manischen und depressiven Stimmungen mit Kreativität in Verbindung brachten, eine scharfe Grenze zwischen gesund und krank gezogen. Sie haben im Gegenteil das Abnorme aus dem Normalen hervorgehen sehen.

Erst die Masslosigkeit, nicht die Symptomatologie an sich, hat in den antiken Ärzteschulen Krankheitswert erhalten oder ist mittelalterlich zur Dämonie der «Akedia» geworden. Wahrscheinlich haben die alten Griechen und das frühe Mönchtum mit dem rhythmischen Wechsel der Gestimmtheit besser umgehen können, als es uns gelingt, mit dem immer schnelleren linearen Takt unserer Epoche zurechtzukommen. Unsere Erschöpfungszustände und Depressionen wären eigentlich Anlass genug, sich vermehrt mit dem heute vorherrschenden Zeitverständnis auseinanderzusetzen. Nicht weil die «alte Zeit» besser war, sondern um unser Zeiterleben zu erweitern und damit das Leiden an der Zeit zu vermindern. Das heute herrschende Zeitkonzept ist insofern eindimensional, als es ausschliesslich nach vorne, in die Zukunft, gerichtet ist und entsprechend mit einem Fortschritts- und Nützlichkeitsdenken einhergeht. Diese Ausrichtung verführt zur Eile, Gegenwart und Vergangenheit erscheinen zweitrangig.

Der Zeitforscher Karlheinz Geissler, der ohne Uhr lebt, schreibt in seinem lesenswerten Buch «Alles hat seine Zeit, nur ich habe keine»: «Das, was wir 'Leben' nennen, zeichnet sich durch ein Konglomerat, ein abwechslungsreiches Kunterbunt aus Zeitformen und Zeitqualitäten, Zeitzuständen und Zeiterfahrungen aus. Das Leben ist multitemporal, und die Welt ist es ebenso. [. . .] Das Leben kann nur dort frei von Zeitnöten, Zeitkonflikten und Zeitproblemen gelebt werden, wo sich die Welt reich an Zeitqualitäten zeigt und wo die Menschen ihren Umgang mit den Zeiten in einen befriedigenden und harmonischen Ausgleich mit der natürlichen und kulturellen Welt und deren Zeitanforderungen bringen können.» Etwas Ähnliches meinte wohl schon Sören Kierkegaard, als er die «Wechselwirtschaft» lobte, nämlich die Kunst, sich selber zu variieren, um so der immer drohenden tiefen Langeweile, die depressive Züge hat, zu entgehen.

«Das Andere der Zeit»

Einfacher hat es bereits der weise Salomon vor dreitausend Jahren ausgedrückt, als er das Diktum prägte: «Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden und sterben, pflanzen und ausreissen, was gepflanzt ist, [. . .] weinen und lachen, klagen und tanzen.» Nach dieser Einsicht zu leben, bedeutet aber, weder der mechanischen Uhr noch den elektronischen Medien die Herrschaft über uns zu überlassen. Gerade die Mehrdimensionalität des Zeiterlebens, das heisst die Fähigkeit, Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart aufscheinen zu lassen, verhilft dazu, das vorherrschende Denken in Zeitatomen zu überlisten und der Zeit Dauer zu geben.

Wie zentral die Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für den Menschen ist, hat der Philosoph Michael Theunissen (in der Aufsatzsammlung «Negative Theologie der Zeit») herausgearbeitet. Für diese zeitliche Synthese ist das Im-Augenblick-gegenwärtig-Sein nötig. Erst wenn dem Verweilen eine Chance gegeben wird, kann nach Theunissen eine Gegenwärtigkeit erfahren werden, in der Vergangenheit und Zukunft mit anwesend sind. Dann kann im günstigen Fall, wie in Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit», Vergangenes überhaupt erst gegenwärtig werden oder, wie in der christlichen Eschatologie, zukünftig Verheissenes partiell schon gegenwärtig sein. Solche Erfahrungen können eine Tiefendimension, «das Andere der Zeit», aufscheinen lassen. Oder wie es Theunissen auch formuliert: «Wer merkwürdigerweise keine Zeit hat, versinkt gerade im Strom der Zeit. [. . .] Wenn ich Zeit habe, bin ich nicht bloss in der Zeit. Ich erhebe mich über sie. Ich besitze die Macht und die Freiheit, zu verweilen und dem Entschwindenden das Bleibende zu entringen.» - Das heisst allerdings nicht, dass ich mich aus der Zeit ausklinken kann. Ich verändere vielmehr mein Verhältnis zu ihr.

Dr. Daniel Hell, emeritierter Professor für klinische Psychiatrie, leitet das Kompetenzzentrum «Depression und Angst» an der Privatklinik Hohenegg in Meilen. Unlängst ist (bei Schwabe) sein Buch «Krankheit als seelische Herausforderung» erschienen.


Nota.

In der Zeit lebt der Mensch, weil er Geschichte hat. - Ist es nicht eher umgekehrt? Hat er nicht eine Geschichte, weil er in der Zeit lebt?  

Die Menschen haben eine Geschichte als Gattung, und wenn nicht 'für sich', so doch für einen äußeren Betrachter. Die Menschen als Individuen haben aber erst recht eine Geschichte, und immer 'für sich'; denn es ist der Grund, warum sie Ich sagen können. 

Ein Vorher und Nachher hat doch auch das Tier, vielleicht weiß es davon? 

Was immer es - in verschiedenen Graden der Gewärtigkeit - 'erlebt', ist ihm doch immer nur von außen 'zugekommen'. Und es hat darauf so reagiert, wie es seinem Verhaltensrepertoire genetisch vorgeschrieben war. Insofern ist ihm alle Bedeutung nur ad hoc und es kann sich nicht daran 'erinnern'.


Die Menschen haben eine persönliche Geschichte, weil sie schlechterdings Handelnde sind. Was immer ihnen 'zukommt', sie müssen sich - wie das Tier - 'verhalten', aber das Tier weiß nichts davon, weil es keine Wahl hat: Die Gene haben alles vorentschieden. Ein Mensch kann sich aber so oder so verhalten; und wie er gewählt hat, schlägt sich in der Regel im Ergebnis nieder. Wenn das Ergebnis seiner Wahl bleibt, nämlich als sachliche Voeraussetzung aller künftigen Wahlen, dann bleibt auch die Wahl - und ihr Warum, nämlich die Bedeutung, die so erst für ihn bedeutend wird. Das Leben wird zu einer Abfolge von ('bedeutenden') Akten, die dauern und das Leben in vorher und Nachher sequenzieren. Weil der einzelne Mensch also seine Geschichte hat, erlebt er ein Zeit.
J.E. 

PS. Auch das Tier altert. Aber das weiß es nicht, es fühlt nur die zunehmende Schwächung. Vielleicht erinnert es sich daran, das es einmal stärker und schneller war. Aber daraus wird keine Anschauung der Zeit, sondern höchstens ein Gefühl von nicht mehr.

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