Donnerstag, 12. September 2013

Gründelnde Ethik.

aus NZZ, 12. 9. 2013                                                                pixelpart  / pixelio.de

Gründliche Ethik
 
Die Moral und die Frage nach dem Warum - ein neues Buch von Otfried Höffe

Uwe Justus Wenzel · Der Mensch ist vergesslich. Darum muss er immer wieder einmal gesagt bekommen, was seine Bestimmung ist - salopper formuliert: was in ihm steckt. In ihm stecken, wie die vielen kursierenden Homo-dies-und-Homo-das-Formeln verraten, viele verschiedene Menschen: ein schmeckender und einsichtsvoller Mensch (der «Homo sapiens»), ein tuender und machender, ein tötender, ein denkender, ein sprechender, ein spielender und so fort. Manche sehen im Menschen auch das Tier oder mancherlei Tiere; jedenfalls lassen die Prägungen nach dem Muster des «Animal rationale», des vernunftbegabten Tieres (freilich auch: Lebewesens), dies vermuten.

Otfried Höffe, der am heutigen 12. September siebzig wird, hat den vielfach begabten, aber vergesslichen Menschen mehr als einmal daran erinnert, dass in ihm ein «Animal morale» stecke. Und da das Moraltier (oder Moralwesen) im Menschen gewissermassen schlummert, ist der Mensch nicht schon an sich moralisch, sondern, wie der Philosoph es nennt, nur erst ein «Animal morabile», ein zur Moral fähiges Lebewesen. In einem neuen Büchlein, das in die Ethik einführen will, schreibt Höffe, der Mensch sei zur Moral nicht nur fähig, sondern auch «berufen».

Den Ruf des moralischen Sollens hört Höffe nicht nur und nicht erst aus dem Munde der kultur- und geistesgeschichtlich sozusagen voll ausgebildeten Vernunft erschallen, er registriert vielmehr einen «basaleren Imperativ», der dem Menschen bereits als Naturwesen, näherhin als «biologischem Multitalent», moralisch Beine mache. Der Autor, der die Erläuterungen zu dieser Überlegung knapp hält, scheint das «basalere» Sollen aus dem hervorgehen zu sehen, was die philosophische Anthropologie als «Weltoffenheit» des Menschen charakterisiert: Das Naturwesen Mensch ist seiner eigenen Natur und seinen Lebensumständen nicht völlig ausgeliefert; der Mensch ist, mit Nietzsche gesprochen, das «nicht festgestellte Tier». Aus dieser Offenheit, die im Lichte der Instinktsicherheit der anderen, der «festgestellten» Tiere auch als Mangel begriffen werden kann, erwächst die Nötigung, Verbindlichkeiten der Lebensführung allererst zu schaffen. Solches Müssen ist noch kein Sollen, aber doch wohl dessen Vorform.

Weltoffenheit, so Höffe explizit, bedeute ausserdem: Energie- und Antriebsüberschuss, der der Intelligenz zugutekomme, der aber auch Allmachtsphantasien befördere. Darum lasse sich der Mensch als «einen Affen definieren, der gelegentlich wie Gott sein will». - Bei so viel Ambivalenz, die die anthropologische Grundausstattung des «Animal morabile» mit sich bringt, nimmt es nicht wunder, dass Höffe - nachdem er schulmässig Methoden und Modelle der Ethik aufgefächert und sortiert hat - auch der Frage «Warum moralisch sein?» ein kleines Kapitel widmet. Eine «gründliche Ethik» dürfe ihr, die recht eigentlich die doppelte Frage nach dem Warum des Sollens wie auch die nach dem Warum des Wollens meine, nicht ausweichen.

Soweit die Frage die Rechtsmoral betreffe, ergebe sich die Antwort von selbst: «Man soll es, weil man es einander schuldet. Die Menschen haben ein Recht darauf, weder betrogen noch bestohlen oder getötet zu werden.» Sobald es aber um die «verdienstlichen Pflichten», um die im engeren Sinne moralische Verbindlichkeit geht - um das also, was Menschen nicht von anderen, sondern nur von sich selbst fordern können -, ist die Frage augenscheinlich nicht so einfach zu beantworten. Höffe bringt ein «Interesse an moralischer Selbstachtung» ins Spiel. Allerdings bleibt undeutlich, ob dies Interesse selbst schon ein moralisches, mithin selbst- und interesseloses Interesse sein kann. Hier macht sich bemerkbar, dass, wie Höffe zu Beginn schreibt, Moral in anthropologischer Perspektive «eine merkwürdige Mischung» sei - eine Mixtur aus «Sollen, Bedürfnis und Sein».

An einer Stelle heisst es, die Frage «Warum moralisch sein?» zu stellen, sei selbst so etwas wie eine moralische Pflicht. Von hier aus wäre der Schritt zu einem Gedanken Nietzsches nicht weit, wonach die Frage nach dem Warum als die zeitgemässe, die «jetzige Form der Moralität selbst» angesehen werden solle. - In solchen Passagen von Höffes neuem Buch zeigt sich, dass sein Autor bei aller erworbenen und in rund zwanzig Werken zu Themen der Ethik dokumentierten Routine das Grübeln nicht ganz vergessen hat - das Grübeln, das das nicht geschäftsmässige Kerngeschäft der Philosophie ist. Vielleicht gibt Otfried Höffe dieser sublimen Art intellektueller Rechtschaffenheit (um noch einmal mit Nietzsche zu reden) in einem anderen Buch dereinst mehr Raum.

Otfried Höffe: Ethik. Eine Einführung. C. H. Beck, München 2013. 128 S., Fr. 13.50.


Nota.

Der phänomenale Ausgangspunkt einer jeden nach Gründen suchenden Ethik ist die faktische Gegebenheit der positiven Moralen rund um den Erdball und auf allen Kulturstufen. Sie wirft die Frage auf nach einer Verwurzelung des ubiquitären Moralismus in der Conditio humana selbst. Diese wiederum zerfällt in die Frage, was der Mensch historisch (geworden) ist, und die Frage, was er heute daraus machen will, d. h. soll.

Historisch ist nicht davon zu abstrahieren, dass die Menschen, d. h. ihre Vorfahren den Sprung aus der Urwaldnische in die offene Welt der Savannen nicht hätten überstehen können ohne eine Festiguung und Formalisierung ihrer gemeinschaftlichen Lebensweise. Aus der Blutsverwandtschaft und dem Totemismus entstand das positive Recht; es kompensiert in vieler Hinsicht die mit seiner Weltoffenheit korrelieren 'Istinktentbundenheit'.

In anderer Hinsicht korreliert mit der Weltoffenheit des Menschen seine Freiheit. Merkwürdig, dass das Wort in dieser Rezension nicht vorkommt. Bei Otfried Höffe nicht? Denn dass U. J. Wenzel es andernfalls übergangen hätte, kann ich kaum glauben. Dem Tier ist durch die Anpasssungleistungen seiner Gattungsgeschichte der Platz, der ihm in seiner Umweltnische zukommt, angewiesen. Das Invividuum lebt, wie seine Gattung lebt. Die Menschen jedoch haben kollektiv eine eigene Geschichte, weil auch die Individuen ihre eigenen Geschichten haben. Mit andern Worten: Seit der Neueröffnung der Welt aus der selbstgemachten, sekundären Nische des Ackerbaus durch die große Industrie und die bürgerliche Verkehrsgesellschaft muss ein jedes Individuum sein eigenes Leben führen. Was es zu tun hat, ist ihm nicht eingeboren. Es muss danach fragen - und wen, wenn nicht sich selbst?

"Die Moral sagt schlechterdings nichts Bestimmtes – sie ist das Gewissen – eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen."
Novalis, Allgemeines Brouillon, N°670

J.E.






 

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