Mittwoch, 18. September 2013

Das Netz weiß nichts.

aus NZZ, 18. 9. 2013                                                  Lichtkunst.73, pixelio.de


Eureka und Heureka
Vom Wissen des Netzes


von Eduard Kaeser · Im Jahre 2009 entwickelten die Robotiker Hod Lipson und Michael Schmidt ein Programm für Data-Mining namens Eureqa. Man füttert den Algorithmus mit Daten, und er spuckt Gesetze aus, die einem das verborgene Muster in der amorphen Datenmenge offenbaren. Die Gleichungen sind zwar da, sie erlauben sogar Voraussagen, aber meist weiss man nicht, was sie bedeuten; das heisst, es gibt keinen theoretischen oder konzeptuellen Rahmen, in den sie sich einfügen liessen. Eureqa erinnert an «Deep Thought», den allwissenden Computer in Douglas Adams Kultbuch «Per Anhalter durch die Galaxis». Er gibt eine einfache und elegante Antwort auf alle Fragen: 42! - und niemand versteht sie.


Was ist der Unterschied von Eureka und Heureka? «Heureka», ruft der Mensch, der etwas entdeckt hat, dem ein Licht aufgegangen ist. Einem Algorithmus geht kein Licht auf. Er ist ein einsichtsloser Daten-Bulimiker. Dennoch fällt auf, wie sich in einschlägigen Kreisen seit längerem schon eine neue Redeweise eingebürgert hat: Das Netz «weiss», Algorithmen «analysieren» Daten, Eureqa «entdeckt» Zusammenhänge. Seit Howard Rheingolds Buch «Smart Mobs» ist die Schwarmintelligenz in aller Munde.



Heute nimmt ein Autor wie David Weinberger diese Redeweise wörtlich. In seinem Buch «Too Big to Know» schreibt er: «Wissen lebt heute nicht nur in Bibliotheken und Museen und akademischen Zeitschriften. Es lebt nicht nur in den Schädeln von Individuen. Unsere Schädel und unsere Institutionen sind schlicht nicht gross genug, um Wissen zu behalten. Wissen ist nun eine Eigenschaft des Netzes.»


Wenn man eine solche Aussage erkenntnistheoretisch ernst nimmt, dann erweist sie sich schnell als nebulös und dubios. Denn was bedeutet «Wissen ist eine Eigenschaft des Netzes» anderes, als dass Menschen seit Jahrtausenden über ein kommunikatives Netz Wissen generieren, vermitteln, austauschen, kritisieren? In diesem Sinn ist Wissen genauso eine Eigenschaft von Eingeborenenstämmen, Forschungsinstituten oder der CIA.


Der Philosoph Gilbert Ryle hat von einem Kategorienfehler gesprochen, wenn man Ausdrücke, die in einem bestimmten Zusammenhang sinnvoll sind, in einem Zusammenhang verwendet, in dem sie sinnlos werden. Die Rede vom Wissen des Netzes ist im gleichen Sinne fehlerhaft, wie wenn ich in einer Bibliothek stehe und frage: Ich sehe Bücher, aber wo ist denn nun die Bibliothek?


Wissen, das sind Bits mit Bedeutung, und Bedeutung entsteht immer durch Zusammenarbeit von Einzelnen. Gewiss, das Internet ermöglicht eine neue Art von Kollaboration, und es mag ungeahnte Lösungsfähigkeiten entwickeln. Nur sollte das Geschwafel über eine «globale Superintelligenz namens die Wolke» uns nicht von einem wichtigen Problem ablenken: Im Zeitalter der ins Netz ausgelagerten Information verliert die im Individuum angelagerte Information an Wert und Bedeutung. Sie ist aber die Basis unserer Kreativität. Um «Heureka» zu rufen, braucht der Mensch seine ganze intellektuelle Raffinerie von Neugier, Staunen, intuitivem Urteil, Erinnern und Vergessen, Kreativität, Skepsis - lauter individuelle Qualitäten also, die auf einem uralten Netzwerk in seinem Schädel basieren. Vielleicht wird eine zukünftige Geschichtsschreibung ohnehin einmal erzählen, die nachhaltigste Errungenschaft des Netzes sei die Wiederentdeckung unseres Kopfes gewesen.

Nota.

Merke: Wissen heißt Bedeutungen verstehen und nicht Daten sammeln.
J.E.

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