Mittwoch, 14. August 2013

Vom Ursprung der Sprache.

aus NZZ, 14. 8. 2013

«Kein Bewegungsablauf ist schwieriger als Sprechen»

Der Linguist und Kognitionswissenschafter Philip Lieberman über die Evolution unserer Sprachfähigkeit
 
Philip Lieberman blickt auf eine lange Karriere zurück. Als einer der ersten Sprachforscher arbeitete er im Rahmen von Darwins Selektionstheorie. Sein neues Buch erklärt, was Kreativität und Sprache gemeinsam haben.

Herr Lieberman, ist Sprache ein biologisches oder ein kulturelles Phänomen?

Sie ist beides. Alle Menschen auf der Erde haben dieselben kognitiven Fähigkeiten. Es ist der kulturelle Rahmen, der ihre Sprache bestimmt und wie komplex sie ist. Die Beschaffenheit unseres Gehirns ermöglicht uns, Sprache zu lernen. Dies geschieht durch Lernprozesse. Wir brauchen weder ein spezielles Sprachorgan im Gehirn noch eine universelle Grammatik.

Die universelle Grammatik ist ein Konzept des amerikanischen Linguisten Noam Chomsky. Es besagt, dass alle menschlichen Sprachen gemeinsamen grammatischen Prinzipien folgen, die angeboren sind. Teilen Sie Chomskys Ansichten nicht?

Sein Konzept funktioniert nicht. Zum Beispiel widerspricht die Passivform der türkischen Sprache Bedingungen, die universell sein sollen. In Brasilien gibt es die Sprache Pirahã. Auch ihr fehlt jenes Element, das Chomsky allen Sprachen zuspricht: Komplexität. Chomskys Theorie macht falsche Voraussagen.

Sie selber waren einst Noam Chomskys Student.

Das stimmt, ich habe seine Kurse besucht, als ich Ingenieurwissenschaften studierte. Später habe ich mich jedoch schrittweise von seinen Ansichten wegbewegt. Seine Erklärungen ergaben für mich immer weniger Sinn. Im Kern schienen bei ihm alle Sprachen wie Englisch zu sein.

Wie kamen Sie als Ingenieur zur Sprachforschung?

In meiner Doktorarbeit beschäftigte ich mich mit der Atemkontrolle beim Sprechen und untersuchte die komplexe Regulierung der Muskeln, die es dazu braucht. Also begann ich mich mit Biologie zu befassen und las die Bücher des Evolutionsbiologen Ernst Mayr. Damals war ich einer der ersten Linguisten, die im Rahmen von Darwins Selektionstheorie arbeiteten. 


Die Evolution spielt auch eine wichtige Rolle in ihrem neuen (noch nicht auf Deutsch erschienenen) Buch. Wieso haben Sie es «The Unpredictable Species» («Die unberechenbare Art») genannt?

Im Buch gehe ich den Fragen nach, warum Menschen kreativ sind und ob ihre Kreativität etwas mit Sprache zu tun hat. Die Antwort ist: Natürlich, dieselben kognitiven Fähigkeiten, mit denen uns die Evolution ausgerüstet hat, sind für unsere Kreativität und für unsere Sprache verantwortlich. Dank der Beschaffenheit unseres Gehirns sind wir nicht so wie andere Lebewesen durch unsere Gene bestimmt. In neuen Situationen erfinden wir neue Dinge, die dann von anderen kopiert werden. Unsere Kultur, unser Verhalten und unsere Sprache ändern sich ständig. In diesem Sinne sind wir unberechenbar.

Auch Schimpansen verfügen über enorme kognitive Fähigkeiten. Weshalb können sie nicht sprechen?

Ihr Gehirn lässt die komplexen motorischen Abläufe nicht zu, die für eine Sprache nötig sind. Kein menschlicher Bewegungsablauf ist schwieriger zu erlernen als Sprechen. Erst im Alter von zehn bis zwölf Jahren sprechen Kinder im selben Mass wie Erwachsene. Dazu kommt die Anatomie: Menschen haben die seltsamste Zunge aller Tiere. Sie geht weit den Hals hinunter, wodurch unser Sprechen effizienter ist. Das geht aber auf Kosten einer erhöhten Gefahr, sich zu verschlucken. In den USA ist das noch immer der vierthäufigste Unfalltod. Bei Neugeborenen dagegen ist die Zunge noch ganz im Mund. Deshalb sehen Neandertaler-Schädel aus wie vergrösserte Köpfe von Neugeborenen. Bei Neandertalern sass der Kehlkopf nicht so tief im Hals wie bei uns.

Sie waren 1971 der Erste, der mit Computermodellen die Sprache von Neandertalern simulierte. Wie gingen Sie vor?

Wegen der Ähnlichkeit von menschlichen Neugeborenen mit Neandertalern verwendeten wir Röntgenbilder von schluckenden und schreienden Kindern, um auf einem Computer die Sprachfähigkeit von Neandertalern zu simulieren. Wir fanden heraus, dass sie alle Sprachlaute machen konnten ausser i, o und a.

Dann sprachen bereits Neandertaler miteinander?

Sie hatten eindeutig eine Sprache. Unser wissenschaftlicher Artikel von 1971 wird häufig falsch zitiert. Wir bestritten nie, dass Neandertaler sprachen. Unser Fazit war, dass sie sprechen konnten, aber nicht so effizient wie wir. 


War die ineffiziente Sprache der Neandertaler trotzdem nützlich?

Trotz einer hohen Fehlerrate konnten sie sich verständigen, was sicher vorteilhaft war. Die Tatsache, dass Menschen ihre seltsame Zunge entwickelt haben, deutet darauf hin, dass bereits die Vorfahren von Menschen und Neandertalern sprachen. Sonst hätte diese lebensgefährliche Anpassung gar keinen Vorteil gebracht. Ich glaube, dass sich Sprache graduell entwickelt hat und ihr Ursprung einige Millionen Jahre zurückliegt. Möglicherweise hatte bereits Homo erectus eine Form von Sprache. Hier habe ich meine Ansichten geändert. Früher glaubte ich, dass die Sprachfähigkeit vor einigen hunderttausend Jahren begonnen hatte.

Gibt es auch genetische Daten, die darauf hinweisen?

Das FOXP2-Gen, das bei der Entwicklung der Sprachfähigkeit eine grosse Rolle spielt, unterscheidet sich bei Menschen und Neandertalern im Vergleich zu Schimpansen. Diese Veränderung muss geschehen sein, bevor Neandertaler und Menschen vor ungefähr 500 000 Jahren divergierten. Es gibt jedoch eine zusätzliche Mutation, die nur bei der menschlichen Version des FOXP2-Gens festzustellen ist. Die war wahrscheinlich für die Evolution des menschlichen Gehirns ausschlaggebend.

Wie hat die Möglichkeit von genetischen Untersuchungen Ihr Forschungsfeld verändert?

Nun können Forscher die Unterschiede ausfindig machen, die dem menschlichen Gehirn zugrunde liegen - und das in den Tiefen der Zeit. Dank kompletten DNA-Profilen aus jahrtausendealten Knochen sind Spekulationen am Neandertaler-Gehirn objektiven Studien gewichen.

Wie hilfreich sind bildgebende Verfahren in der Sprach- und Kognitionsforschung?

Das Problem ist, dass mit diesen Verfahren teilweise unsinnige Resultate erzeugt werden. So kann man damit das Hirnareal für Tennis suchen. Man untersucht jemanden, der sich erst vorstellt, Tennis zu spielen, und danach imaginiert, einfach hin und her zu rennen. Werden beide Bilder verglichen, lässt sich das Zentrum für Tennis ermitteln. Das ist natürlich Nonsens. Aber es gibt Forscher, die auf diese Weise versuchen, das Zentrum für Moral oder Religion zu finden.

Was sind dennoch die Vorteile dieser neuen Methoden?

Richtig angewendet, ermöglichen sie tatsächlich, mehr über die Funktion gewisser Hirnstrukturen herauszufinden. Entscheidend ist aber, dass das Gehirn nicht aus Modulen besteht. Es ist ein komplexeres System, in dem die Teile durch Schaltkreise miteinander verknüpft sind. Einige Schaltkreise haben gemeinsame Elemente. Interessanterweise sind unsere neuronalen Schaltkreise denjenigen von Rhesusaffen sehr ähnlich. Wir sind aber weder Rhesusaffen noch Schimpansen. Der Schlüssel liegt wohl in regulierenden Genen wie dem FOXP2, die die Effizienz der Schaltkreise verbessern.


Dann gibt es auch kein Modul im Gehirn, das für die Sprache verantwortlich ist, wie etwa das Broca-Areal?

Ein Zentrum für Sprache gibt es nicht. Es gibt eine ganze Serie von Strukturen, die zusammenarbeiten, um verschiedene Sprachprozesse auszuführen. Wenn man zum Beispiel Wörter aus seiner Erinnerung abruft, verwendet man einen Schaltkreis, der den präfrontalen Kortex, die Basalganglien und andere subkortikale Strukturen enthält. Dieser ist mit hinteren Gehirnteilen verbunden, die Informationen speichern.

Die Theorie, dass das Broca-Areal dem Sprachzentrum entspricht, ist aber noch immer verbreitet.

Wahrscheinlich, weil sie unsere Sprachfähigkeit auf so einfache Weise erklärt. Bereits in den achtziger Jahren zeigten Forscher jedoch, dass Menschen keinen permanenten Sprachverlust erleiden, ausser wenn subkortikale Hirnregionen beschädigt sind. Umgekehrt fanden sich viele Vorfälle, bei denen Patienten nach einem Schlaganfall ein völlig zerstörtes Broca-Areal aufwiesen. Trotzdem erholte sich ihre Sprachfähigkeit.

Sie sind der Auffassung, dass die Basalganglien (Hirnkerne mit motorischen und kognitiven Funktionen) bei der Sprachfähigkeit eine wesentliche Rolle spielen. Was spricht dafür?

Die Basalganglien sind für vieles verantwortlich. Sie entstanden vor Hunderten Millionen Jahren bei Tieren, die heute lebenden Fröschen glichen. Die Leistung der menschlichen Basalganglien wurde aber in den letzten 200 000 Jahren durch Gene wie das FOXP2 massiv gesteigert. Dadurch besitzen wir Schaltkreise, die die menschliche Sprache, unsere Kreativität und feinmotorische Abläufe ermöglichen. Bei der Parkinson-Krankheit, bei der die Funktion der Basalganglien vermindert ist, findet man deshalb verschiedene Symptome, die scheinbar keinen Bezug zueinander haben. Neben kognitiven Ausfällen liegen auch sprachliche Defizite, Bewegungsstörungen und Persönlichkeitsveränderungen vor. Das zeigt, dass verschiedene Teile des Gehirns durch die Basalganglien kommunizieren.

Wie äussern sich die Sprachprobleme bei Parkinson-Patienten?

Sie haben Mühe, Sätze zu verstehen, die 10-jährige Kinder problemlos begreifen. Wir testeten bei Parkinson-Patienten Medikamente, die die Funktion der Basalganglien unterstützten. Dieselben Personen zeigten eine viel bessere Sprachleistung mit Medikamenten als ohne. Ähnliches gilt für Hochgebirgskletterer. Am Mount Everest untersuchten wir Bergsteiger und stellten fest, dass sie in der Höhe Probleme mit der Sprachsteuerung bekamen. Die Basalganglien brauchen mehr Sauerstoff als andere Teile des Gehirns und sind vom abnehmenden Sauerstoffgehalt im Hochgebirge zuerst
betroffen.

Worauf sind Sie stolz, wenn Sie auf Ihre wissenschaftliche Karriere zurückblicken?

Es freut mich, sagen zu können, dass manche der Thesen, die ich an Vorträgen, in Artikeln und in Büchern vorgestellt habe, durch neue Forschungsmethoden bestätigt oder verfeinert wurden. Einige wurden auch widerlegt. Aber das ist ebenso wichtig.
Interview: Martin Amrein

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