Mittwoch, 7. August 2013

Kuhmilch und das Abendland.

Workers produce buffalo mozzarella cheese at a dairy in the Campania region town of Caianello
Ihre Toleranz für Milchzucker, ein Zeichen evolutionärer Veränderung, entwickelten die Europäer offenbar ohne Hilfe aus dem Osten. Ist auch die europäische Kultur am Ende gar kein orientalischer Import? 

aus Süddeutsche.de, 7. 8. 2013

Evolution der Laktose-Toleranz 
  
Zivilisierte Verdauung

Von Burkhard Müller

Es war ein rätselhafter Fund: das Fragment eines 7000 Jahre alten Tongefäßes in Polen, das voll war von kleinen Löchern. Wer braucht schon einen Topf, der tropft? Es sei denn - man hätte ein Sieb benötigt.

Nachdem dieser Verdacht einmal geweckt war, untersuchte man das Objekt genauer und stieß auf Reste von Milchfett. Offenbar hatte hier jemand Käse produziert. So früh schon, und so weit weg von der Wiege der Landwirtschaft in Vorderasien! Ein kleines Stück Keramik mochte es gewesen sein, aber es bedeutete einen großen Sprung für die Erforschung der alten Geschichte Europas (Nature, Vol. 500, Number 7460, 1. August 2013).

Lang hat man die Geschichte der Zivilisation als eine solche des Brotes und des Getreides erzählt. In den letzten Jahren ist die Geschichte der Milch hinzugekommen.

Die Toleranz für Milchzucker (Laktose) ist, wie es scheint, vor evolutionär erst ganz kurzer Zeit aufgetreten, vor rund 7500 Jahren, wie Modellrechnungen ergeben haben. Die Mutation eines einzigen Nukleotids in der DNS-Kette des Erbguts hat genügt, um sie hervorzubringen. Da Mutationen immer bei einzelnen Individuen vorfallen, muss diese sich mit einer rasenden Geschwindigkeit ausgebreitet haben. 

Bisher galt: Alles Licht und alle Kultur stammen aus dem Orient

Die Verhältnisse im Einzelnen sind kompliziert. Die Viehzucht selber ist schon um einige Jahrtausende älter als besagte Mutation; offenbar hat man zunächst einmal mehr auf Käse gesetzt, der deutlich weniger Laktose enthält als das Ausgangsprodukt. Und bei schon entwickelter Milchwirtschaft musste derjenige einen gewaltigen Vorteil haben, der plötzlich auch Frischmilch verdauen konnte.

Die Frage, was hier genau geschehen ist, betrifft mehr als Details der menschlichen Ernährung. Bislang hatte man zumeist angenommen, die Landwirtschaft in ihren beiden Branchen des Ackerbaus und der Viehzucht sei zusammen mit ihren Trägern über den Balkan nach Europa eingewandert, und die ursprüngliche, ziemlich dünne Bevölkerung aus Jägern und Sammlern dadurch verdrängt worden.

Doch bis heute besitzen nur 35 Prozent der Weltbevölkerung das Enzym Laktase; wer es nicht hat, bekommt immer noch schlimme Bauchschmerzen, wenn er Milch trinkt. Dieses runde Drittel ist überwiegend europäischer Abstammung. So sieht es ganz danach aus, als hätte die Mutation einen Jäger und Sammler betroffen, der sowieso schon hier in Europa war und das Neue, das gerade ankam, für die Zwecke seiner eigenen Leute nochmals neuartig nutzbar machte.

Und etwa zur selben Zeit wie die Laktose-Toleranz tritt in Europa eine zweite Mutation auf: Plötzlich gibt es blonde Haare und blaue Augen. Spätestens hier beginnt die Sache heikel zu werden und ein ursprünglich rein biochemisches Thema sich in ein rassisches zu verwandeln.

Denn dann wäre die europäische Kultur am Ende gar kein orientalischer Import, sondern auf unserem eigenen Mist gewachsen! Was lang als gesichertes Wissen galt, nämlich dass alles Licht und alle Kultur aus dem Osten stammen, aus dem Bereich des "Fruchtbaren Halbmonds" zwischen Anatolien, Syrien und Iran - das lässt sich auf einmal, wie es in Blogs bereits geschieht, als eine typische "linke These" schmähen. Übrigens auch als eine rechte: Einige Inder sind ebenfalls unzufrieden damit, dass Laktase und Zivilisation (zwischen denen inzwischen ein enges Band geknüpft scheint) aus westlicher Richtung zu ihnen gekommen sein soll, wo doch die Veden mit ihren zahlreichen Referenzen zur Rinderzucht viel älter sind!

Ein klassischer Ausdruck des geistigen Kolonialismus eben. Warten wir die nächsten Sensationsfunde ab. Denn die tiefe Geschichte ist heute in gewaltiger Bewegung.

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