Donnerstag, 15. August 2013

Die verlorene Unschuld von Ägyptens Armee.

aus NZZ, 15. 8.. 2013

Die verlorene Unschuld von Ägyptens Armee
 
Das Zerschlagen des Protests der Muslimbrüder markiert eine neue und blutige Etappe in Ägyptens Transformation. Der Ausnahmezustand demaskiert die Armee.  
 
Von Martin Woker

Sechs Wochen nach dem Sturz des gewählten Präsidenten Mohammed Mursi haben die ägyptischen Sicherheitskräfte ihre Zurückhaltung abgelegt und die verschiedenen Protestlager der Muslimbrüder in Kairo erstürmt. Die Gewalteruption löste im ganzen Land eine Welle von Kundgebungen und Attacken gegen staatliche Institutionen und deren Vertreter aus. Während die Opferbilanz sowie der genaue Hergang der verschiedenen Gewaltausbrüche noch offen sind, stehen zwei Folgen des Blutvergiessens bereits fest. Ägyptens Armee hat ihre zu Beginn des Aufstands gegen Mubarak wahrgenommene Rolle als Vermittlerin zwischen Volk und Regierung eingebüsst und den letzten Rest ihrer Unschuld verloren. Die Toten des blutigen Mittwochs sind mehr als nur Opfer eines gnadenlosen Machtkampfs am Nil. Sie liessen ihr Leben im Einsatz für die Wiederherstellung einer demokratisch legitimierten Ordnung und die Rückkehr Mursis in sein Amt. Das sind noble Beweggründe.

Fragwürdige Hilfe vom Golf

Natürlich trifft es zu, dass Mursis Muslimbrüder im Umgang mit der Macht versagt haben und nicht die geringste Bereitschaft zum Dialog mit ihren politischen Gegnern erkennen liessen. Nach dem einen Jahr ihrer Herrschaft fällt auch die wirtschaftliche Bilanz verheerend aus. Dass in dieser Zeit grösster Not die Monarchen am Golf in ihre Kässeli griffen und den Generälen am Nil grosszügige Hilfe in Aussicht stellten, ist weder Zufall noch ein Akt arabischer Bruderhilfe. Die Geste ist System.

Der an den Urnen legitimierte jähe Aufstieg der ägyptischen Muslimbrüder ist in den Golfmonarchien (mit der Ausnahme Katars) mit grösster Besorgnis verfolgt worden. Blankes Unverständnis rief die Tatsache hervor, dass Amerika als regionale Schutzmacht diesen Machtwechsel ohne Not tolerierte und im Namen der im «arabischen Frühling» keimenden Demokratie gar guthiess. Im autoritären Selbstverständnis der Herrscher am Golf erschöpft sich die Teilhabe ihrer Landsleute an der Macht in der regelmässigen Entgegennahme üppiger Geschenke. 

Ihnen echte Kompetenzen zu überlassen, bedeutete unweigerlich Machtverlust. Warum sollen am Golf jene seltsamen demokratischen Werte gelten, so sagen die Scheichs, die der Westen im Umgang mit dem mächtigen China bereitwillig zu opfern bereit ist? Mit der Entgegennahme der reichen Gaben aus Saudiarabien und benachbarten Monarchien machen sich Ägyptens Generäle mitsamt ihren 80 Millionen Mitbürgern faktisch zu Untertanen wie zu Mubaraks Zeiten, zumindest, was die Bevölkerung betrifft. «Das Volk will den Sturz des Systems», lautete einst der Leitspruch auf dem Tahrir-Platz. Alles umsonst und vergessen?

Im Strudel von Gewalt und Revanche

Im Urteil besonnener Beobachter vor Ort bestand in Kairo für die Sicherheitskräfte kein zwingender Anlass zum Zuschlagen. Zwar hatte sich trotz der Vermittlung verschiedenster Emissäre kein Kompromiss abgezeichnet. Doch die bisherigen Massnahmen zum Kaltstellen der Muslimbrüder waren ausreichend, um ihre endgültige Entmachtung schrittweise weiterzuführen. In diesem Prozess der Zermürbung konnten sich die Generäle auf den Sukkurs eines Grossteils der Medien verlassen. Diese halten jene Version aufrecht, wonach die Wut von 30 Millionen Ägyptern genug der Legitimation für Mursis Sturz war. Warum denn Gewehre, wenn die Delegitimierung der Muslimbrüder auch mit nichtletalen Mitteln möglich gewesen wäre? Ist der Ausnahmezustand Voraussetzung für die Restauration?

Die Frage wird dereinst Historiker und hoffentlich auch Gerichte beschäftigen. Die Ausrufung des Notrechts markiert eine Eskalation mit offenem Ausgang. Klar ist, dass die Armeeführung an den verschiedenen Brandherden im ganzen Land nun noch kompromissloser einschreiten will. Doch wird ihr das Fussvolk folgen? Während die Generäle, allen voran Abdelfatah as-Sisi, nationale Einheit predigen und sich dabei auffällig in die Tradition eines Gamal Abdel Nasser einreihen, steht die Stabilität der Sicherheitskräfte keineswegs fest. Viele der Ordnungshüter sehen in der Armee immer noch jene positive Kraft, die vor zweieinhalb Jahren dem Volk im Kampf um Gerechtigkeit zur Seite stand. Die Gewalteskalation wird einen in Ägypten im regionalen Vergleich noch wenig entwickelten Märtyrerkult fördern und das Bedürfnis nach Rache wecken. Rache an wem? Die Projektionsfläche ist gross: Polizisten, Soldaten, Israeli, Ausländer und Kopten. Ein Teil der rebellischen Jungen vom Tahrir-Platz hat das böse Spiel der Armee durchschaut und kämpft im aufgekommenen Gefechtslärm verzweifelt um Gehör. Ihr Ruf zur Rettung der Revolution verdient volle Unterstützung.


Nota.

Da ist nichts "schiefgelaufen". Es ist nur eben so, dass die Schwarmintelligenz von Twitter und Facebook zwar ausgereicht hat, Mubarak zu stürzen. Genauer gesagt, die Generäle zu zwingen, ihn fallen zu lassen. Doch um eine neue, revolutionäre Staatsmacht zu errichten, brauchte es Strukturen; revolutionäre Machtstrukturen. Organisation, mit andern Worten. "Die Straße" eignet sich auf die Dauer nur als Manövermasse politisch weitersichtiger Strategen. In diesem Fall der Armeespitze und dem inneren Kern der Muslimbrüder. Auf einen Zweikampf dieser beiden ganz unrevolutionären Kräfte lief es unvermeidlich hinaus. Die "revolutionäre Jugend" hat sich an der Nase herumführen lassen, schwarmidiotisch.
J.E. 

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